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Zur 12. Internationalen Myopiekonferenz

Neueste Erkenntnisse über Kurzsichtigkeit
Die Ursachen der Kurzsichtigkeit (Myopie) werden seit mindestens 200 Jahren gesucht – in den letzten 25 Jahren jedoch wegen der raschen Zunahme mit erheblich verstärktem personellem und finanziellem Einsatz, dessen Notwendigkeit auch von den staatlichen Förderinstrumenten erkannt wird. Auf der 12. Internationalen Myopiekonferenz, die vom 8. bis 11. Juli in Cairns/Australien stattfand, stellten etwa 200 Wissenschaftler aus aller Welt ihre neuesten experimentellen und epidemiologischen Daten vor. Ein zusammenfassender Bericht von Prof. Dr. rer. nat. Frank Schaeffel.

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Myopie stellt die häufigste Fehlentwicklung des Auges in der ersten Lebenshälfte dar. Dabei wächst das Auge zu sehr in die Länge, so dass die Netzhaut ein unscharfes Bild erhält, wenn man in die Ferne blickt. In den Industrienationen sind etwa ein Drittel der Bevölkerung kurzsichtig, in den Großstädten Asiens teilweise über 90 Prozent. In Ländern mit schneller Industrialisierung kommt es zu einer dramatischen Zunahme der Kurzsichtigkeit, zum Beispiel zu einer Verdoppelung der Kurzsichtigkeit bei Achtjährigen in Taiwan von 1995 bis 2005.

Nicht umsonst ist die Aufklärung der Ursachen von Kurzsichtigkeit bisher nicht sehr gut gelungen: Es handelt sich um eine komplexe Wechselwirkung von Umwelt und Genetik. Sicher ist, dass die Einflüsse der Umwelt umso klarer zu Tage treten, je unterschiedlicher Kinder leben: Lebten sie immer in Städten, ist deren Kurzsichtigkeit um ein Vielfaches häufiger als in wenig entwickelten ländlichen Gegenden. Umgekehrt zeigt sich der Einfluss der Genetik umso klarer, je ähnlicher die Lebensweisen sind. Ein Extremfall stellen eineiige Zwillinge dar, mit 90 Prozent Übereinstimmung der Fehlsichtigkeiten (wobei aber hier das Alter identisch und Lebensweise fast immer sehr ähnlich sind).

Kurzsichtigkeitsforschung zerfällt derzeit in drei Stoßrichtungen mit folgenden Fragestellungen:

• Epidemiologische Untersuchungen: Welche Lebensgewohnheiten, Seherfahrungen und Elternhäuser haben kurzsichtige Kinder, im Vergleich zu denen, die nicht kurzsichtig geworden sind?
• Welche Bereiche (Loci) auf unseren Chromosomen enthalten Gene, die die Entwicklung von Kurzsichtigkeit bestimmen?
• Wie entscheidet die Bildaufnahme-Einheit im Auge, die Netzhaut, ob das Auge schneller oder langsamer wachsen soll, und welche Signale aus der Netzhaut gelangen zur Lederhaut, der äußeren Augenhülle, die auch die Augenform bestimmt? Kann man die Netzhaut durch andere Brillen dazu bringen, das Auge langsamer wachsen zu lassen? Und wie kann das Wachstum der Lederhaut durch biochemische Signale (oder auch Medikamente) gesteuert werden?

Auf der 12. Internationalen Myopiekonferenz gab es zu allen drei Richtungen neue Erkenntnisse.

Epidemiologische Untersuchungen

Überraschend deutlich trat zu Tage, dass der Aufenthalt im Freien eine erstaunlich hemmende Wirkung auf die Entwicklung der Kurzsichtigkeit bei Kindern hat. Mindestens vier große Studien mit insgesamt mehreren tausend Kindern (zwei aus USA, je eine aus Australien und Singapore) kamen zu dem Schluss, dass das Risiko, kurzsichtig zu werden, sehr viel geringer wird, wenn insgesamt mindestens zehn Stunden pro Woche im Freien verbracht wurden. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass Kinder in Singapore nur etwa drei Stunden pro Woche im Freien sind und auch extrem hohe Kurzsichtigkeitsraten aufweisen. Was allerdings draußen anders ist als drinnen, und was dort Augenwachstum hemmen könnte, ist noch nicht klar: Licht, Pupillengröße, größere Sehentfernungen oder sind die Gene, die Kinder nach draußen treiben, die Gleichen, die vor Myopie schützen? Hier könnten Tiermodelle weiterhelfen.

Der Zusammenhang mit Naharbeit (wie zum Beispiel Lesen) blieb dagegen, wie auch in anderen Untersuchungen der jüngeren Vergangenheit, weniger deutlich – in zwei vorgestellten Arbeiten war es offensichtlich ein Faktor bei der Entstehung von Kurzsichtigkeit, in zwei anderen nicht so eindeutig –  es bleibt weiterhin unklar, was genau bei Naharbeit das Augenwachstum anregen könnte.  Dagegen besteht kein Zweifel, dass die Kurzsichtigkeit der Eltern eine Rolle spielt: Mit zwei kurzsichtigen Eltern verdoppelt oder verdreifacht sich die Chance, selbst kurzsichtig zu werden.

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Abb. 1: Zusammenhang zwischen Myopie der Eltern und der Anzahl der Stunden,
die Kinder draußen verbrachten (nach Jones et al. 2007).

Suche nach Genen

Bei der Suche nach Genen, die die Kurzsichtigkeit steuern, benötigt man die Fehlsichtigkeit des Patienten und DNA, zum Beispiel aus Blut- oder Speichelproben. Man untersucht, wie bestimmte Marker auf den Chromosomen zusammen mit der Kurzsichtigkeit von einer auf die nächste Generation übertragen werden. Viele solche Marker sind bekannt und über die ganzen Chromosomen dicht verteilt. Damit lassen sich Abschnitte auf den Chromosomen finden, in denen Gene liegen, die die Kurzsichtigkeit bestimmen. Mindestens 15 Bereiche (Loci) auf den Chromosomen sind mit Kurzsichtigkeit korreliert worden (genannt MYP1 bis MYP15), aber in diesen Bereichen liegen oft mehr als hundert Gene und bis jetzt wurde keines eindeutig als Ursache identifiziert – obwohl es Kandidaten gibt, die gegenwärtig gestestet werden. 

Einfluss der Netzhaut

Wie die Netzhaut entscheidet, ob das Auge wachsen soll oder nicht, ist eines der großen Rätsel der Kurzsichtigkeitsforschung. Wenn wir am Mikroskop sitzen, können wir nur durch Probieren das
Bild scharf stellen. Wie Experimente an Tiermodellen zeigen, kann die Netzhaut dieses Problem ohne Probieren, in etwa zwei Minuten lösen und das Auge je nach Bedarf mehr oder weniger wachsen lassen.

Auch die Signale, die die Netzhaut freisetzt und die zur Lederhaut gelangen müssen, sind nicht vollständig aufgeklärt – es ist nur sicher, dass mindestens vier Transmitter-/Rezeptorsysteme daran beteiligt sind. Die Mechanismen der Wachstumsregelung in der Lederhaut werden dagegen immer besser verstanden – aber die Lederhaut ist biochemisch, vom Aufbau und von den Zelltypen her sehr viel weniger komplex als die Netzhaut. Man kann natürlich auch versuchen, die Wachstumsreize aus der Netzhaut durch Änderung der Seherfahrungen zu verändern. Fehlsichtigkeit in der Peripherie, also außerhalb der Stelle des schärfsten Sehens im gelben Fleck in der Mitte des Gesichtsfeldes, ist unerwartet wichtig für die Steuerung des Augenwachstums. Die meisten Brillen erzeugen relative Weitsichtigkeit in der Peripherie. Entsprechend versucht die Netzhaut, diesen Fehler zu korrigieren und das Augenwachstum zu verstärken. Man stellt deshalb jetzt Brillengläser her, die in der Peripherie statt Weitsichtigkeit relative Kurzsichtigkeit erzeugen. Zumindest beim Affen hemmt dies das Augenwachstum sehr effizient. Da man in der Peripherie sowieso nicht sehr hoch aufgelöst sieht, stört die leichte Unschärfe nicht. Mit diesem Thema hat sich ein erheblicher Teil der Vorträge beschäftigt. Auch die Brillenindustrie hat großes Interesse, diese neuen Erkenntnisse in die Entwicklung ihrer Gläser einfließen zu lassen. Ein amerikanisches Patent von 2005 engt die Freiheitsgrade hier allerdings etwas ein.

Schließlich bleibt die Lösung, das Augenlängenwachstum durch Medikamente zu hemmen. Weiterhin am wirksamstem ist Atropin. Es muss allerdings täglich angewandt werden und hat störende Nebenwirkungen, wie den Verlust der Akkommodation (was dann, auch bei Kindern, eine Lesebrille verlangt), große Pupillen und entsprechende Blendempfindlichkeit sowie erhöhtes Risiko Trockener Augen. Dennoch ist bemerkenswert, dass 35 Prozent aller kurzsichtigen Kinder in Taiwan regelmäßig mit Atropin behandelt werden, um das Fortschreiten ihrer Kurzsichtigkeit zu hemmen.

Forschung in Tübingen

In Tübingen gibt es eine lange Tradition der Kurzsichtigkeitsforschung, die hier seit 1989 durchgehend durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird, sowie kürzlich auch durch ein großes europäisches Madam Curie-Trainingsprogramm (Wissenschaftlicher Koordinator: Prof. Schaeffel, Management: Dr. Thomas Wheeler-Schilling mit Mitarbeitern.
http://www.my-europia.net).

Auch aus diesen Gründen ist es naheliegend, dass die 13. Internationale Myopiekonferenz nun das nächste Mal in Deutschland stattfinden wird – in Tübingen im Juli 2010.

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