Das Auge der Tyche

Serie zur Sammlung Roth (Folge 120)
Das Auge ist nicht nur ein unersetzbares Sinnesorgan, sondern gilt auch seit der Antike als Sitz der Psyche. So sahen die Philosophen Griechenlands die menschliche Seele hinter der schwarzen Pupille im Augeninneren versteckt. Sympathie und Wohlwollen, aber auch Angst und Schreck zeigen sich im Pupillenspiel. Form, Stellung und Bewegungsablauf der Augenlider hingegen gehören zu den Grundlagen der Mimik von Mensch und Tier. Sie signalisieren Stimmung und Gemüt. Dies haben bereits in der Antike die Bildhauer in ihren Werken gezeigt. In besonderem Maße gilt das für Darstellung der Götter.

Schon unter dem ersten chinesischen Kaiser und Gründer des chinesischen Reiches, Shi Huang Di, haben es die Bildhauer verstanden, einer ganzen Armee lebensgroßer Figuren individuelle Züge zu verleihen: Die berühmten Terrakotta-Soldaten, die den Kaiser nach seinem Tod beschützen sollten, lassen an jedem der Soldaten eigene Gesichtszüge erkennen. Gehorsam, Stolz und Kampfgeist drücken sich in den einzelnen Gesichtern durch die feine Ausarbeitung von Lidern und Augen aus.

Besonders die Bildhauer der alten Hochkulturen beherrschten es meisterhaft, uns das Mimetische zu vermitteln. Der hier gezeigte kleine Kopf einer Göttin aus der Blütezeit Griechenlands zeigt dies beispielhaft. Er ist das Fragment einer Plastik aus dem hellenistischen Kunstraum. Leider ist nur der kleine Kopf erhalten geblieben, alle anderen Teile gelten als verschollen. Trotz der starken Beschädigungen sind aber die beigefügten göttliche Attribute wie die mit Edelsteinen besetzte Krone noch erkennbar und weisen zweifellos auf die Figur der Tyche hin: Sie galt als Göttin des Schicksals, der glücklichen oder bösen Fügung, sie hatte das Wohl des Menschen in der Hand.

Mehr dazu im AUGENSPIEGEL September 2021.

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