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MVZ – Fluch oder Segen?

Vier Jahre nach ihrer Einführung im Gesundheitsmodernisierungsgesetz sorgen Medizinische Versorgungszentren (MVZ) für immer heftigere Debatten. Augenärzte sind geteilter Meinung über Nutzen und Gefahr von MVZ. Angela Mißlbeck gibt einen Überblick über die Entwicklung der MVZ und befragte jeweils einen Befürworter und einen Gegner zu ihren persönlichen Erfahrungen.

Sie sollen die Versorgung durch interdisziplinäre Zusammenarbeit qualitativ und wirtschaftlich verbessern. Doch bei manchen Ärzten sind sie als Einfallstor für Gesundheitskonzerne in die ambulante Versorgung verschrien. Sie gelten als modern und haben doch alte Vorbilder. MVZ polarisieren. Die politische Diskussion wurde zuletzt angeheizt durch ein Zitat, das dem sachsen-thüringischen AOK-Chef Rolf Steinbronn zugeschrieben wurde. Er soll gesagt haben: „Die Niederlassung der Ärzte als Form der Zukunft erhalten zu wollen, wäre falsch“. Sein Dementi konnte die wütenden niedergelassenen Ärzte nicht beschwichtigen. Sogar die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) schaltete sich ein. KBV-Vorstand Carl-Heinz Müller stellte fest: „Arztsein ist nicht irgendein Beruf, sondern eine bewusste Entscheidung, anderen zu helfen. Die Freiberuflichkeit ermöglicht es erst, Spielräume zu haben, um Entscheidungen unter vorrangig medizinischen Gesichtspunkten zu treffen und nicht dem ökonomischen Diktat beispielsweise einer Krankenkasse unterworfen zu sein.“

Doch die Fronten verlaufen längst nicht mehr nur zwischen den niedergelassenen Ärzten auf der einen und dem Bundesgesundheitsministerium oder den Krankenkassen auf der anderen Seite. Uneinigkeit über die neuen Strukturen herrscht auch innerhalb der Ärzteschaft. Kritiker warnen vor einer „Industrialisierung der ambulanten Medizin“ und vor dem „Ende der Freiberuflichkeit“. Befürworter weisen dagegen daraufhin, dass es auch in anderen freien Berufen, zum Beispiel bei Anwälten oder Architekten, längst große Zusammenschlüsse mit Angestellten gibt. Gegner fürchten den weisungsgebundenen Arzt. Befürworter schätzen es, dass die MVZ-Geschäftsführung den Ärzten arztfremde Verwaltungstätigkeiten abnimmt.

Bei diesen Debatten geht es weniger um kleine MVZ, die aus ehemaligen Gemeinschaftspraxen entstanden sind. Dort sind die Ärzte meist freiberuflich tätig. In der Kritik stehen vielmehr die großen Konstrukte, die mit professioneller Geschäftsführung und vielen angestellten Ärzten arbeiten. In Ballungszentren machen diese Häuser Praxisinhabern Konkurrenz. Niedergelassene Ärzte sehen es meist auch nicht gern, wenn Kliniken MVZ gründen, wie Rhön das in großem Stil angekündigt hat und wie es die beiden großen Berliner Krankenhausunternehmen Vivantes und Charité bereits umsetzen.
Seit dem Start der MVZ-Gründungen im Jahr 2004 wächst der Anteil von MVZ, die von Krankenhäusern gegründet werden. Das zeigt die Statistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Zum Jahresanfang 2008 waren Krankenhäuser demnach an etwas mehr als jedem Dritten von insgesamt 948 MVZ in Deutschland beteiligt. Zwei Jahre zuvor war das erst bei einem Viertel der MVZ der Fall. Im ersten Jahr der Gründungen hatten die niedergelassenen Ärzte deutlich die Nase vorn: Ende 2004 standen lediglich zehn von 70 MVZ unter Krankenhausbeteiligung. Die Sorgen vieler Niedergelassener, von Klinik-MVZs verdrängt zu werden, sind den KBV-Zahlen zufolge aber auch heute noch unbegründet. Mit 59,2 Prozent der MVZ-Träger stellen die Vertragsärzte immer noch die deutliche Mehrheit. 34,4 Prozent der MVZ sind in der Trägerschaft von Kliniken. An den restlichen 6,3 Prozent wirken zum Teil Heilmittelerbringer als Träger mit.

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Abb. 1: Gesamtkennzahlen (Quelle: KBV).

Die KBV-Statistik zeigt auch, dass die Anzahl der angestellten Ärzte in den MVZ seit dem vierten Quartal 2005 stärker steigt als die Zahl der in den MVZ tätigen Vertragsärzte. Insgesamt waren zum Jahresanfang 2008 gut 4.000 Ärzte in MVZ tätig. Von ihnen arbeiteten 2.850 als angestellte Ärzte und 1.156 als Vertragsärzte. Im vierten Quartal 2005 war die Zahl der angestellten Ärzte mit 691 und der Vertragsärzte mit 601 dagegen noch annähernd gleich. Dabei scheint ein Zusammenhang zwischen der vermehrten MVZ-Gründung durch Krankenhäuser und dem steigenden Anteil angestellter Ärzte zu bestehen. Denn in den Klinik-MVZ arbeiten laut KBV fast ausschließlich angestellte Ärzte. Der Trend geht jedoch allgemein zum Anstellungsverhältnis. Denn die Zahl der MVZ, die ausschließlich aus Vertragsärzten bestehen, ist neuerdings rückläufig. Häufig arbeiten dagegen sowohl angestellte als auch Vertragsärzte in einem MVZ. Das könnte damit zusammenhängen, dass auch die von Vertragsärzten gegründeten MVZ wachsen und neue Ärzte anstellen.

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Abb. 2: Art der ärztlichen Berufsausübung/Gesamtentwicklung: Die Anzahl der angestell_ten Ärzte in den MVZ steigt seit dem 4. Quartal 2005 stärker an als die Zahl der in den MVZ tätigen Vertragsärzte (Quelle: KBV).

Was ihre Größe betrifft bleiben die MVZ jedoch noch hinter den politischen Erwartungen zurück. Nur langsam steigt die durchschnittliche Zahl der Ärzte in einem MVZ. Sie lag laut KBV zuletzt bei 4,2 Ärzten pro MVZ. Wenn Augenärzte in MVZ mitwirken, dann offensichtlich meist mehrere. Insgesamt ist die Fachgruppe der Augenärzte in 69 MVZ vertreten. 170 Fachkollegen haben sich für diese Form der ambulanten Tätigkeit entschieden. Eine im MVZ tätige Kollegin, Dr. Ingeborg Kaffine, hat dem AUGENSPIEGEL ihre positiven Erfahrungen geschildert. Zu Wort kommt aber auch mit Dr. Rainer Fontana ein MVZ-Gegner:

Pro Freiberuflichkeit

BildDr. Rainer Fontana
Niedergelassener Augenarzt in Grünstadt/Rheinland-Pfalz:

„MVZ bedeuten das Aus für die Fachgruppe der Augenärzte.“

Bisher wurde in ärztlichen Berufsausübungsgemeinschaften das Prinzip der Freiberuflichkeit geachtet. Das ist im MVZ nicht mehr der Fall. Dort werden die internen Management- und Controllingfunktionen von einer Geschäftsführung übernommen. Der Arzt wird zum weisungsgebundenen Gehaltsempfänger. Das ist das Ende der Freiberuflichkeit. Politik und Krankenkassen atmen auf. Der ambulant tätige Arzt als angestellter Dienstleister im MVZ – wie damals in den Polikliniken der DDR. Ob 1950 die SED mit der Einführung der Polikliniken nur die Enteignung der Ärzte, nur ökonomische Aspekte oder auch eine besser Überwachung der Ärzte verfolgte, ist eine müßige Frage. Dass diese Effekte mit Einführung der MVZ zwangsweise eintreten, ist evident.

Zurzeit dürfen Krankenkassen keine MVZ gründen. Das überlassen sie anderen. Wenn genug MVZ gegründet sind, werden die steuernden Begünstigungen wegfallen und erste MVZ kommen in Bedrängnis. Spätestens dann werden börsennotierte Gesundheitsunternehmen zu Dumpingpreisen einsteigen und renditeorientiert arbeiten lassen. Die Krankenkassen schauen zu, wie die Heuschrecken die letzten Grashalme verzehren und Patienten zunehmend schlechter behandelt werden. Aber gleichzeitig drehen sie den Geldhahn weiter zu, so dass die Heuschrecken weiterziehen. Dann braucht es nur eine kurze Kabinettssitzung und MVZ werden den Krankenkassen ausgeliefert. Das Endziel ist das MVZ im Besitz der Krankenkasse mit angestellten Ärzten, die nach den Maßgaben der Kasse behandeln. Der MDK übernimmt die Überwachung der MVZ, die Privatliquidation kassiert die Krankenkasse. Das IGeL-Angebot führt zur sofortigen Abmahnung des Arztes.

Welches MVZ möchte ernsthaft einen Kollegen anstellen, der den ganzen Tag die Kundschaft des MVZ nur mit IGeL belästigt? Aber ohne IGeL ist der konservative Augenarzt betriebswirtschaftlich uninteressant: Niedrigstes KV-Honorar aller Fachgruppen mit teuerstem Gerätepark und Massenbehandlung für lau – da winkt jeder Buchhalter ab. Dagegen würde ein Kataraktoperateur von einem MVZ mit Handkuss empfangen. Zehn bis 20 Patienten am Tag verstopfen nicht das MVZ und es gibt feste Strukturverträge. Aber Konflikte sind vorprogrammiert. Eine Phakomaschine, die nur einen Tag in der Woche genutzt wird, macht wenig Sinn. So haben sich bereits viele Fachkollegen in Operationszentren zusammengeschlossen. Diese Zusammenarbeit funktioniert, weil jeder pro Operation die gleichen Kosten verursacht und den gleichen Gewinn erzielt. Wie aber soll die im MVZ erzwungene Zusammenarbeit zum Beispiel mit Orthopäden oder Chirurgen funktionieren, deren Operationen ohne Strukturverträge nach floatendem Punktwert honoriert werden? Wenn schon manche augenärztliche Gemeinschaftspraxis im Streit aufgelöst wurde, wie soll dann ein MVZ, wo jeder sein Fachgebiet für das wichtigere hält, konfliktfrei geführt werden?

Die Fachgruppe der Augenärzte hat Behandlungsmonopol. Die Politik, die KVen und die Krankenkassen fürchten dies. Deshalb besteht die Vorgabe, dass ein sortenreines MVZ nicht zulässig ist. Die augenärztliche Einzel- oder Gemeinschaftspraxis kann ohne Rücksichtnahme für die Interessen ihrer Fachgruppe eintreten. Dagegen führen MVZ zu einer gezielten Schwächung der Fachgruppe. Der Augenarzt im MVZ arbeitet als angestellter Arzt mit Kollegen anderer Fachrichtungen und muss sein berufspolitisches Handeln den Maßgaben des MVZ-Besitzers und den anderen Fachgruppen unterordnen. Fachgruppenspezifische Druckmittel wie Korbmodell und Zulassungsrückgabe können im MVZ nicht mehr gedacht werden. Das MVZ reißt den Kollegen aus seiner Fachgruppe. Der Berufsverband wird zum Papiertiger. Mein Fazit: Für die kleine Fachgruppe der Augenheilkunde ist das MVZ die letzte Ruhestätte – Wiederbelebung ausgeschlossen.

Pro MVZ
BildDr. Ingeborg Kaffine
Angestellt im größten Berliner MVZ, Polikum:

„Die Anstellung im MVZ befreit von vielen Sorgen.“

Seit Anfang des Jahres bin ich im größten Berliner MVZ, Polikum, augenärztlich tätig. Vorher war ich 17 Jahre lang niedergelassen. Die extreme psychische Anspannung und die hohe Arbeitsbelastung in meiner Arztpraxis hat sich schließlich negativ auf meine Gesundheit ausgewirkt. Deshalb habe ich mir Gedanken gemacht, wie ich zukünftig Augenheilkunde in Ruhe machen könnte.

Im Polikum fungiere ich quasi als Oberärztin. Neben der Patientenbehandlung ist es meine Aufgabe, junge Augenärzte anzuleiten, die direkt von der Klinik ins MVZ kommen. Für die jungen Kollegen ist das MVZ eine gute Möglichkeit, um die Besonderheiten der ambulanten Versorgung kennenzulernen.

Eine große Bereicherung ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit im MVZ. Alle Kollegen sind offen, wenn Probleme anfallen. Bei vielen Glaukompatienten brauche ich eine internistische Diagnostik. Im MVZ kann diese Diagnostik am gleichen Tag erfolgen, an dem das Tagesprofil des Patienten bestimmt wird. Das erspart den Patienten Wege und Zeit. Mir selbst macht es großen Spaß, so zu arbeiten. Denn die Kommunikation mit den Kollegen ist wesentlich direkter und unkomplizierter als im niedergelassenen Bereich. Zusätzlich findet einmal wöchentlich eine Besprechung mit allen Kollegen und Helferinnen statt.

Als besonders belastend habe ich in der Niederlassung den ständigen Budgetdruck und die laufenden Auseinandersetzungen mit der Kassenärztlichen Vereinigung und den Krankenkassen empfunden. Das belastet mich im MVZ nicht mehr, denn darum muss ich mich nicht kümmern. Auch mit Personalfragen und Praxisverwaltung muss ich mich kaum auseinandersetzen. Diese Arbeiten übernimmt die Verwaltung. Ich kann mich auf die ärztliche Tätigkeit konzentrieren.

Ein festes Gehalt garantiert mir ein Auskommen. Finanziell stehe ich nicht schlechter als vorher in der eigenen Praxis. Im Kassenarztbereich müssen im MVZ jedoch genauso viele Patienten durchgeschleust werden wie in einer Praxis, damit es sich rechnet. Diese Leistung wird durch eine zusätzliche Umsatzbeteiligung lohnenswert. Dennoch halten sich Überstunden in Grenzen. So habe ich nun endlich mehr Zeit für meinen Enkel und meine Hobbies.

Medizinisch erlaubt die Arbeit im MVZ mindestens dasselbe Niveau wie die Tätigkeit in der Arztpraxis. Darauf habe ich besonderen Wert gelegt, denn ich will nicht Patienten wegschicken müssen, weil Geräte für die Behandlung von speziellen Problemen fehlen. Nun arbeite ich mit einer hochmodernen Geräteausstattung, die einige Investitionen nötig gemacht hat. Solche Investitionen zahlen sich in einem MVZ schneller aus als in der Niederlassung, weil die Geräte von mehreren Augenärzten gemeinsam genutzt werden. MVZ können durch die Kooperation und die gemeinsame Raum- und Gerätenutzung der Ärzte kostensparend arbeiten.

Auch die ärztliche Fortbildung hat ihren festen Platz in meiner Angestelltentätigkeit. Das Polikum veranstaltet einmal monatlich zentrale interdisziplinäre Fortbildungen für Ärzte aller Fachrichtungen zu fachübergreifenden Themen, wie zum Beispiel Allergien oder Diabetes. Dazu werden oft fachliche Koryphäen als Referenten eingeladen. Zudem sind vertraglich Extra-Urlaubstage für Fortbildungen vereinbart und eine Kostenbeteiligung des MVZ für die Fortbildung.

Alles in allem ist mir unverständlich, warum Ärztefunktionäre auch aus dem Berufsverband der Augenärzte sich prinzipiell gegen MVZ aussprechen. Die Kritik, dass MVZ-Strukturen die freie Arzttätigkeit beschneiden, kann ich nicht nachvollziehen. Meines Erachtens ist die Debatte sehr ideologisch geprägt. Etwas mehr Pragmatismus könnte nicht schaden. Ich persönlich fühle mich jedenfalls sehr viel freier in meiner Tätigkeit seit ich im MVZ arbeite als vorher in der Niederlassung.

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