Die Julius-Hirschberg-Gesellschaft tagte in Salzburg (Teil 2)
Von Mozart über Paracelsus
Bei der XXII. Tagung der Julius-Hirschberg-Gesellschaft in Salzburg war der inhaltliche Bogen zum Thema „Von Mozart über Paracelsus – nicht nur – zu Werneck und Sattler“ weit gespannt und umfasste ein umfangreiches Vortragsangebot auch internationaler Referenten. Dr. Sybille Scholtz fasste die Inhalte zusammen.
Die Vorstandsvorsitzende der Julius-Hirschberg-Gesellschaft (JHG), Prof. Dr. Jutta Herde (Halle) berichtete über „Julius Jacobson und die Überwindung des Nothstandes im Cultus Preussen“. Julius Jacobson (1828-1889) blieb seiner Heimatstadt Königsberg (heute Kaliningrad) treu. Nach absolvierter Schul- und Universitätsausbildung und erworbenem Doktortitel in der Medizin 1853/54 erfüllte er sich den Wunsch, bei und mit Albrecht von Graefe zu arbeiten. Die drei- bis viermonatige Ausbildung bei von Graefe sowie der von diesem arrangierte Operationskurs bei Ferdinand von Arlt in Prag prägten Jacobsons ärztliches und insbesondere augenärztliches Spektrum und seine Maxime, die Wissenschaft nicht als Mittel zum Zweck, sondern zum Wohle der Menschheit zu nutzen. Jacobson ließ sich 1854 in Königsberg allgemeinärztlich und chirurgisch mit schwerpunktmäßiger Bevorzugung der Augenheilkunde nieder. Mit der 1858 erfolgten Habilitation begann Jacobsons akademische Laufbahn und sein unerbittlicher Kampf für den separaten Lehrstuhl für Ophthalmologie. Jacobson arbeitete in der Klinik, Lehre und Forschung sowie schriftstellerisch unermüdlich. Im Kampf um die Wahrheit in Wissenschaft und Ophthalmologie nahm er kein Blatt vor den Mund, was ihm viele Feinde einbrachte. 1868 erschien seine Streitschrift „Die Augenheilkunde an preußischen Universitäten, ein Nothstand im Cultus“, der er 1869 und 1872 „Zur Reform des ophthalmologischen Universitäts-Unterrichtes“ folgen ließ. Mit der Zuerkennung der ordentlichen Professur und somit des Lehrstuhles für Ophthalmologie 1873 nahm der Siegeszug an allen preußischen Universitäten seinen Lauf. Mit der Einweihung des Neubaus der Klinik und Poliklinik für Ophthalmologie in Königsberg hatte er sein Ziel erreicht. Seiner Feder verdanken wir zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten. Von Graefe nannte ihn den Mitvater der neuen Staroperationsmethode und sein Gewissen. In Julius Jacobson verehren wir einen der bedeutendsten Ophthalmologen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland.
Der Vortrag von Prof. Dr. Jörg Draeger (Hamburg) thematisierte die „Historische Bedeutung der Ophthalmologie für die Seefahrt“. Schon im Altertum spielte die Seefahrt für Handel und Fischerei eine große Rolle. Die Schiffsführer orientierten sich zunächst an markanten Objekten an Land, nutzten aber bald auch die Gestirne zur Navigation. Dies stellte von vornherein hohe Anforderungen an die Punktsehschärfe des Schiffsführers. Später wurden zur Erleichterung der Navigation Markierungszeichen aufgestellt: Leuchttürme dienten als optische Tag- und Nachtmarken. Schon früh zeigte sich der Zusammenhang mit der erforderlichen Sehschärfe, dem intakten Gesichtsfeld, und auch dem Farbensehen, der Dunkeladaptation und der Kontrastwahrnehmung. Diese Beobachtungen führten verhältnismäßig früh zur Entwicklung von ophthalmologischen Anforderungskatalogen für die Zulassung zum Schiffsführer, zunächst national und international nach ganz unterschiedlichen Maßstäben. Draeger referierte anschaulich über die Zusammenhänge zwischen Entwicklung der Orientierungshilfen und normierter Kontrolle der Sehleistungen.
Nach Ägypten entführte Dr. Dr. Robert F. Heitz (Straßburg) die Zuhörer indem er über „Der einzigartige Blick einiger Augen aus altägyptischer Zeit“ berichtete. Die Augen einiger Statuen aus der Zeit des Alten Ägyptischen Reiches (2345-2181 v. Chr.) besitzen die sonderbare Eigenschaft, dass ihr Blick den Bewegungen des Betrachters folgt. Eine genaue Untersuchung dieser Augen erklärt die optischen Eigenschaften dieser einzigartigen Erscheinung der Kunstgeschichte.
Ein weiterer Beitrag im Rahmen der Kunstgeschichte kam von Dr. Gisela Kuntzsch-Kullin (Braunschweig): „Farbsinngestörte Künstler und Malerei“. Bezüglich der angeborenen Farbsinnstörung (in der Literatur auch als Farbfehlsichtigkeit, Farbsinnanomalie oder Farbenblindheit benannt) beschrieb 1794 erstmals der britische Chemiker Dalton die Rot-Grün-Blindheit, an der er selbst litt und die deshalb als „Daltonismus“ bezeichnet wurde. Etwa zeitgleich befasste sich Goethe mit der Farbenlehre und später mit dem möglichen Einfluss der Farbschwäche auf die Malkunst. 1978 hat der Augenarzt Wolfgang Münchow unter 342 untersuchten Künstlern der Stadt Dresden 31 Rot-Grün-Gestörte gefunden, es lag also das gleiche Verhältnis wie in der allgemeinen Bevölkerung vor. Angeborene Farbsinnstörung und malkünstlerische Begabung schließen sich keineswegs aus. In welcher Form und unter welchen Umständen die Seh- und Malweise farbsinngestörter Maler erfolgen kann, wurde ausführlich im Vortrag besprochen. Auf Kompensationsversuche, Hilfsmöglichkeiten und Erkennungstaktiken wurde ebenfalls eingegangen, denn alle besprochenen Künstler haben Schwierigkeiten bei der Verwendung und Unterscheidung von Rot und Grün. Anlass für Dr. Kuntzsch-Kullin sich mit dieser Thematik zu beschäftigen, war die Besichtigung eines kleinen Heimatmuseums in Ballenstedt im Harz, in dem Bilder des dortigen ehemaligen Hofmalers Wilhelm von Kügelgen gezeigt wurden, der an einer Rot-Grün-Schwäche litt. Bei von Kügelgen hatte die Umwelt erst nach seinem Tod von der Farbsinnstörung Kenntnis erhalten. Im Vortrag wurde der Lebenslauf von Kügelgens dargestellt (1802-1867). Es folgten Beschreibungen über Malerschicksale von Georg Einbeck (Pole, 1871-1951), Florimond van Loo (Belgier, 1823-?), Joseph Achten (Österreicher, 1822-1867), Paul Manship (Amerikaner, 1885-1965), Charles Meryon (Franzose, 1851-1868) und Paul Henry (Ire, 1876-1958). Auch Künstlern wie Seurat, Whistler, Leger, Sisley, Constable und Turner wird eine Farbsinnstörung nachgesagt.
Dr. Aloys Henning aus Berlin referierte über „Die Bedeutung privilegierter Okulisten und Schnittärzte im 17. Jahrhundert“. Bereits bei der XXI. Zusammenkunft der JHG in Halle 2007 sprach Henning erstmalig über ein Okulisten-Netzwerk aus Nachfahren und Schülern eines reformierten niederländischen Exulanten aus mittelalterlichem Adel. Ihre Bedeutung konnte in Halle nur knapp umrissen werden. Bis heute ließen sich in jener Zeit in Sachsen und Brandenburg 23 Okulisten nachweisen. Von ihnen waren, soweit ersichtlich, insgesamt 14 landesherrlich privilegiert: neun kaiserlich, zehn besaßen kurfürstliche Privilegia. Die personbezogene landes- beziehungsweise reichsweite Praxiserlaubnis für Okulisten und Schnittärzte galt ihrer reisenden Praxis. Sie kennzeichnet einen im 17. Jahrhundert wesentlichen Typ augenärztlicher Versorgung in Korrespondenz zur damaligen Bevölkerungsdichte, insbesondere im Dreißigjährigen Krieg. Die gleichzeitige Bezeichnung privilegierter Okulisten und Schnittärzte als „Leibärzte“ scheint auf ihre Verpflichtung zu verweisen, dem privilegierenden Landesherrn auf Anforderung als medizinische Spezialisten zu dienen – im Unterschied zu seinerzeit raren besoldeten Hofokulisten, wie 1590 in Dresden Georg Bartisch, den Brandenburger Johann Dietrich Schertling in Königsberg 1667 und Moskau 1676, gefolgt 1696 in der preußischen Residenz von Dr. med. et chir. Joseph Viviani.
Die Biographie und augenheilkundlichen Aspekte des „Vorarlberger Bauern und Schriftstellers Franz Michael Felder“ präsentierte Priv.-Doz. Dr. Gregor Wollensak (Berlin). Franz Michael Felder wurde 1839 in Schoppernau im Bregenzerwald als Sohn des Bauern Jakob Felder geboren. Im Alter von sechs Monaten entdeckten die Verwandten an seinem rechten Auge Flecken. Im Alter von 15 Monaten wurde er daher zur Behandlung zu dem damals in der Gegend bekannten Augenarzt Josef Wurzer nach Ischgl im Paznauntal/Tirol gebracht. Unglücklicherweise operierte Wurzer im angetrunkenen Zustand das gesunde linke Auge, welches im Verlauf zur Erblindung dieses Auges führte, so dass Felder zeitlebens nur noch das schwache rechte Auge blieb. Später brachte man den Buben wegen der Augenerkrankung zum Dorfpfarrer von Schwarzenberg, eine Wunderheilung blieb allerdings aus. Trotzdem wurde Felder ein tüchtiger Bauer und Schriftsteller. Er schrieb unter anderem Romane, Erzählungen, Gedichte, Satiren und eine Autobiographie. Der Germanist _Ludwig Hildebrand aus Leipzig wurde zum literarischen Förderer Felders. Felder war auch sozialreformerisch tätig, unter anderem gründete er die „Vorarlberg’sche Partei der Gleichberechtigung“, eine Käsereigenossenschaft, einen Versicherungsverein der Bauern und 1867 eine der ersten Volksbüchereien von Österreich in Schoppernau. Felder machte sich hiermit in seinem Dorf nicht nur Freunde. Insbesondere mit dem Dorfpfarrer Johann Georg Rüscher gab es Auseinandersetzungen. Felder hatte insgesamt fünf Kinder. 1868 verstarb überraschend seine Frau. Nicht lange danach, am 26. April 1869, verstarb Felder an Lungentuberkulose und Schlaganfall.
Egal, ob sie Hansen-Krankheit, Miselsucht, Strafe Gottes oder Aussatz genannt wurde, die Lepra war früher auch in Deutschland eines der Schreckgespenster der Menschen. In manchen Ländern unserer Erde ist sie das auch heute noch. Prof. Dr. Guido Kluxen aus Wermelskirchen berichtete über den Norweger „Armauer Hansen (1841-1912) und okuläre Lepra“. Für Hansen war klar, dass es sich bei der Lepra um eine Infektionskrankheit handeln musste. Kurz bevor er sich sicher war, den Leprabazillus entdeckt zu haben, erschien zum ersten Mal eine separate Studie über die okuläre Lepra in Gemeinschaftsarbeit mit dem Ophthalmologen Ole Bull. Darin beschreibt er in histologischen Präparaten eine gelb-braune Masse, die lepraspezifisch zu sein schien. In deren Bereich entdeckte er etwas später den Leprabazillus ungefärbt in den Schnitten, dann etwas deutlicher mit Osmium angefärbt. Andere Mitbeobachter konnten diese Entdeckung faktisch nicht nachvollziehen. Hansen schien irgendetwas Unbedeutendes, was mit der Krankheit nichts zu tun hatte, in seinen Präparaten beobachtet zu haben. Sie sollten sich irren. Von einem Besuch des 24-jährigen Bakteriologen Albert Neisser, einem Schüler von Robert Koch, im Jahre 1879 in Bergen versprach sich Hansen endlich, dass dieser ihm bei der Anfärbung des Bazillus helfen könnte. Neisser und Hansen probierten die Weigert-Koch’sche Färbemethode, die zunächst genau so zu einem enttäuschenden Ergebnis führte. Man kann mutmaßen, dass Neisser die Präparate mit Hansen in Bergen absichtlich zu schwach anfärbte. Denn kaum wieder in Breslau zurück, fand Neisser spektakuläre Funde in ihm zur Verfügung gestellten Material aus Norwegen. Er zögerte nicht, seine Ergebnisse zu publizieren, ohne mit Hansen nochmals Kontakt aufgenommen zu haben.
Die vierte und letzte Sitzung begann mit einem Vortrag zur „Entwicklung der Kataraktchirurgie bei Kindern“ von Norman B. Medow, New York. Vieles ist über die Kataraktchirurgie beim Erwachsenen bekannt, nur wenig gibt es zur Geschichte der kindlichen Kataraktchirurgie. Unter Verwendung der Literatur, Bücher und Artikel, die vorwiegend vom 18. bis zum 20. Jahrhundert geschrieben wurden, konnten von Medow klare Ideen zur Kataraktchirurgie bei Kindern gewonnen werden: In Schriften von Susruta, Galen, Bartisch, Paré oder Beer fand die kindliche Kataraktchirurgie keinerlei Erwähnung. Die erste Diskussion beginnt in der frühen Hälfte des 19. Jahrhunderts und geht mit der Entwicklung der Anästhesie einher. Dies war auch sehr wahrscheinlich der Hauptgrund dafür, dass früher nicht über diese Form der Kataraktoperation geschrieben wurde. Schon damals wie auch heute wird nicht stark über den Zeitpunkt der Operation diskutiert, frühzeitige, späte oder wohlmöglich gar keine Operation. In seinem Vortrag erläutert Medow die diversen Widersprüche von der ersten Nennung bis hin zur Gegenwart, in der immer noch höchst unterschiedliche Aussagen zum besten OP-Zeitpunkt oder zur Korrektur des aphaken Kindes existieren.
Ein weiterer Vortrag aus dem Bereich der Kunst kam von Dr. Sibylle Scholtz (Erlangen) und Prof. Dr. Gerd U. Auffarth (Heidelberg): „Kunst oder Krankheit – Der Einfluss der Katarakt auf die späteren Bilder von William Turner“. William Turner war einer der berühmtesten Künstler, seine Gemälde inspirieren seit Generationen Maler und Betrachter. Die Veränderungen des Malstils seiner Spätwerke können im Sinne einer fortschreitenden Katarakt interpretiert werden. In diesem Vortrag beschrieben die Referenten den (möglichen) Einfluss einer (möglicherweise) fortschreitenden Katarakt im Spätwerk von William Turner. Es kann davon ausgegangen werden, dass er unter den Auswirkungen einer maturen Katarakt litt. Die optischen Effekte eines an einer Katarakt Erkrankten können in engem Zusammenhang mit der getrübten Augenlinse gebracht werden: Zunehmender Detailverlust und Veränderungen in der Farbauswahl sind symptomatisch für eine fortgeschrittene Katarakt, was auch in den Bildern William Turners nachzuvollziehen ist. In den Spätwerken William Turners kann der Einfluss seiner Kataraktentwicklung sehr gut nachvollzogen werden: Turner gestaltete seine späteren Bilder zunehmend detailärmer und bevorzugte verstärkt gelbe und braune Farbtöne. Da zu Zeiten Turners eine Kataraktoperation noch als durchaus gefährlich galt, entschloss sich der Künstler wohl zu keiner Operation, zumindest ist über einen derartigen Eingriff nichts überliefert. Da Turner auch im Alter ein äußerst produktiver Maler war hat der Betrachter heute die Möglichkeit den Einfluss der voranschreitenden Katarakt dieses großen Künstlers in dessen Spätwerken nachzuvollziehen.
Über „Charles L. Schepens (1912-2006), Erfinder der binokulären indirekten Ophthalmoskopie und entscheidender Förderer der modernen Netzhautchirurgie“ sprach anschließend Prof. Dr. Dieter Schmidt aus Freiburg. Charles Schepens wurde 1912 in Mouscron (Belgien) geboren, sein Vater war Arzt für Allgemeinmedizin. Charles Schepens studierte Medizin in Belgien. Im Alter von 30 Jahren wurde er als Widerstandskämpfer von der Gestapo verfolgt. Er war gezwungen, seinen Namen zu wechseln. So übernahm er ein Sägewerk in Mendive in den Pyrenäen. Da er auch bis dorthin verfolgt wurde, war Schepens gezwungen bis nach Spanien zu flüchten. Von dort aus gelang es ihm, nach England zu entkommen. Dort begann er erneut als Augenarzt zu arbeiten, wo er bis zu seiner Übersiedlung 1947 mit seiner Familie nach Boston im Moorfields Eye Hospital arbeitete. Er entwickelte dort das binokulare indirekte Ophthalmoskop, das seitdem routinemäßig weltweit als entscheidendes Instrument für Netzhautoperationen verwendet wird. Das indirekte Ophthalmoskop stellt die Grundlage der modernen Netzhautchirurgie dar. In Boston gründete Schepens die erste Retina-Abteilung am Massachusetts Eye & Ear Infirmary. Seine Netzhautabteilung war einzigartig, sie zählte bald zu den bedeutendsten der ganzen Welt. Er publizierte mit seinem hervorragenden Team mehr als 300 Arbeiten und mehrere Bücher. Schepens beschrieb neue Untersuchungsmethoden und Augenkrankheiten, beispielsweise die familiäre exsudative Vitreoretinopathie (auch als Criswick-Schepens-Syndrom bezeichnet), und vor allem entwickelte er neue Operationstechniken. In Frankreich wurde im Alter von 94 Jahren geehrt, indem er zum Mitglied der „Légion d’Honneur“ ernannt wurde.
Auch das JHG-Vorstandsmitglied Dr. Albert Franceschetti (Meyrin, Schweiz) bereicherte das Kongressprogramm mit einem Vortrag zu „Schweiz, Feminismus und medizinisches Studium“. Es ist bemerkenswert, dass die Schweiz, die als sehr traditionsreich bekannt ist, eine hervorragende Rolle am Ende des 19. Jahrhunderts bei der Zulassung der Frauen zur Medizin gespielt hat. Man sollte nicht vergessen, dass das Frauenstimmrecht erst 1971 in die Bundesverfassung aufgenommen wurde, und dass Frauen und Männer erst 1981 in der Bundesverfassung gleich gestellt wurden. Die Gründe dafür sind verschieden, innerschweizerisch oder auch international: hochbegabte, oft jüdische Frauen, die meistens aus Russland kamen, revolutionäre Flüchtlinge aus dem Ausland, Opposition zwischen konservativen und revolutionären Gruppen (beispielsweise die Radikalen in Genf), finanzielle Überlegungen. Ein Jahrhundert später hat die Schweiz mehr Frauen als Männer im Medizinstudium. Das ist sicher erfreulich vom Standpunkt der Geschlechtergleichheit. Die Tatsache, dass Ärztinnen häufig eine Teilzeitarbeit ausüben und oft auch schlechter bezahlte Stellen annehmen, könnte nach Auffassung Dr. Franceschetti einen negativen Einfluss auf die Qualität der ärztlichen Versorgung in der Schweiz haben.
Ein weiterer Referent aus den Vereinigten Staaten schloss das anspruchsvolle Kongressprogramm der diesjährigen Veranstaltung ab: Fraser Muirhead, MD FRCS(C) aus Tiburon, Kalifornien, berichtete sehr ansprechend über „Ein wandernder Flecken der Hornhaut“. 1834 hat James Wardrup in seinem Buch “The Morbid Anatomy of the Human Eye, Second Edition, Volume One, pp. 71-23, 1834“, eine kurze englische Übersetzung von einem deutschen Artikel veröffentlicht. In der Übersetzung hat Wardrup geschrieben, „Manniske of Frankenhausen mentions a curious instance, where a foreign body, which stuck on the conjunctiva … advanced to the central part of the cornea.” „I made an incision … and saw with the assistance of a microscope, a black body lying in the incision. I removed it with the point of the knife … and found it to be the wing case of a beetle”. 1798 wurde der ursprüngliche Artikel mit dem Titel „Ein wandernder Flecken der Hornhaut, welcher von der Flügeldecke eines Käfers entstanden war”, veröffentlicht. Der Autor, D. Manniske, ein Arzt, allerdings kein Augenarzt, beschrieb, wie er einen Fremdkörper von der Hornhaut eines Landgeistlichen abnahm. Wer war dieser unbekannte Arzt D. Manniske? Muirhead fand nichts über ihn in den üblichen Nachschlagewerken – im Internet allerdings sehr viel! Er war Wilhelm August Gottlieb Manniske aus Frankenhausen, im ehemaligen Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt. Er lebte von 1769 bis 1835. Muirhead fand über Manniske heraus, dass dieser ein sehr fortschrittlicher Arzt war und an allen modernen Fortschritten seiner Zeit interessiert war. Wie er die besagte Operation möglicherweise durchgeführt hat sowie die Art des Mikroskops war noch unklar. Obwohl Manniske kein Facharzt war, hatte er Ende des 18. Jahrhunderts die Notwendigkeit für den Arzt erkannt, während der Augenchirurgie besser sehen zu können. Also 90 Jahre bevor Zehender seinen „binokulare Cornea-loupe” erfunden hatte und 80 Jahre bevor Sämisch sein eigenes Instrument erfand, war Manniske mit dem technischen Mitteln seiner Zeit auf dieses Bedürfnis eingegangen: Er benutzte ein kleines Handmikroskop, um eine einfache Augenoperation vorzunehmen. Obwohl er das Handmikroskop lediglich dazu verwandte, die Wunde zu untersuchen, sollten wir anerkennen, dass er etwas völlig Neues tat, und ihm seine Erfindung hoch anrechnen.
Teilnehmer der JHG-Jahrestagung.
Das umfangreiche und anspruchsvolle Kongressprogramm schloss mit Dankes- und Verabschiedungsworten von Prof. Jutta Herde und Frank Krogmann sowie einem Festabend unter Teilnahme von Professor Remky ab, der zusammen mit seiner Gattin auch diesen Teil des diesjährigen JHG-Kongresses sehr bereicherte.
Auch der nächste Jahreskongress der JHG bleibt den Alpen treu: Von der Stadt an der Salzach geht es nächstes Jahr hoch über den Bodensee ins Appenzeller Vorderland nach Heiden: Vom 2. bis 4. Oktober 2009 trifft sich die JHG unter dem Rahmenthema „Albrecht von Graefe – Augenheilkunde in Deutschland und in der Schweiz“ zur XXIII. Zusammenkunft.