Ich sehe was, was du nicht siehst

Über die Wahrnehmung in der Ideenlehre Platons
Der antike griechische Philosoph Platon (428-348 v. Chr.) beweist es mit seinem Höhlengleichnis: Das Instrument der wahren Erkenntnis ist das Sehen. Aber wer zu viel gesehen hat, der ist fortan zu einem unbequemen Leben verdammt. Von Dr. Michael Ahlsdorf (Edingen).

Gleichnisse hinken. Man muss kein Augenarzt sein, um das Gleichnis vom Splitter im Auge des Bruders und dem Balken im eigenen Auge zu verstehen (Matthäus 7,3). Komplizierter wird es schon mit dem richtigen Verständnis von der linken Wange, die dem anderen darzubieten ist, wenn dieser die rechte geschlagen hat (Matthäus 5,59). Die Ausdeutung dieses Gleichnisses bereitete vor einem halben Jahrhundert jedem Wehrdienstverweigerer Kopfzerbrechen, denn die Männer in der staatlichen Prüfungskommission interpretierten es meistens anders.

Nun handelt es sich in beiden Fällen nicht um Gleichnisse im engeren Sinne, sondern um so genannte Sprüche – aber auch die sind immer gleichnishaft, weil Jesus von seinen Zeitgenossen verstanden werden wollte. Doch Zeiten ändern sich und mit ihnen auch das Verstehen. Die christliche Theologie etablierte später die Forschungsdisziplin der Hermeneutik, die sich mit der Auslegung alter Texte für das moderne Verständnis abmühte. Sie klärt uns zum Beispiel darüber auf, dass die Rede von der hinzuhaltenden Wange ein typischer Fall von Dialektik sei und überhaupt erstmal nur zur Besinnung anregen soll (Fuchs, Hermeneutik, S. 231). Das bedeutet für das echte Leben etwas ganz anderes als das Hinhalten einer Wange.

Mehr dazu im AUGENSPIEGEL März 2023.

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