Auswirkungen einer Sehbehinderung auf die allgemeine kindliche Entwicklung
Eine angeborene Sehbehinderung hat durch die Störung der sensorischen Integration gravierende Einflüsse auf die allgemeine kindliche Entwicklung, dies um so mehr, wenn zusätzlich eine Mehrfachbehinderung vorliegt. Sie führt zu charakteristischen Entwicklungsverzögerungen und Auffälligkeiten in den Entwicklungsbereichen Grobmotorik, Feinmotorik, kognitive Entwicklung, emotionale/soziale Entwicklung. Prof. Dr. Barbara Käsmann gibt einen Überblick über die vielfältigen Folgen einer Sehbehinderung für die allgemeine kindliche Entwicklung.
Die visuelle Einschränkung führt vor allem zu einem Bewegungsmangel. Es kommt damit zu einer mangelnden Stimulation des vestibulären, taktilen und propriozeptiven Systems. Blinde Kinder zeigen oft erst statische Bewegungsmuster bevor dynamische Bewegungen erlernt werden (z. B. stehen sie häufiger, bevor sie beginnen zu krabbeln, Laufen ist über lange Zeit nur sehr vorsichtig-steif und entlang Möbeln oder unter Führung einer Hand möglich). Die Behinderung elementarer Lernprozesse mit Störung basaler Aufnahme- und Verarbeitungsprozesse führt sekundär zu einer verminderten Fähigkeit zur Ausnutzung des Sehrestes und zu verringerten Kompensationsmöglichkeiten. Die Kinder erscheinen entwicklungsverzögert.
Ein Circulus vitiosus stellt sich ein, wenn nicht mit spezifischen Frühfördermaßnahmen vorgebeugt wird. Durch die Sehbehinderung/Blindheit kommt es zu einer unzureichenden Wahrnehmung des visuellen Aufforderungscharakters der Umwelt. Der Faktor „Neugier“ fehlt beziehungsweise ist wesentlich geringer ausgeprägt – die Kinder erforschen nicht mit Händen was sie sehen, krabbeln nicht auf interessante Dinge zu, bewegen sich somit viel weniger. Es kommt neben dem Bewegungsmangel oft zu einer Bewegungsangst im nicht erfassbaren Raum. Es kommt zu Störungen der motorischen Entwicklung (Muskeltonus, Halte- und Stellreaktionen, Gleichgewicht sowie zu verzögertem Erlernen von Krabbeln und Laufen. Das Raumverständnis kann sich nicht normal ausbilden: Wenn ein Spielzeug einem blinden Kind aus dem Aktionsradius fällt, fällt es für dieses ins Nichts, ist in unerfassbarem Raum verschwunden.
Der fehlende visuelle Aufforderungscharakter der Umwelt bedingt zudem bei den Kleinkindern ab einem Jahr einen fehlenden Anreiz zur Nachahmung (der Eltern) – eines der wesentlichen Elemente bei kognitiven Lernprozessen, bei Erlernung der Feinmotorik und der Kulturtechniken. Zudem sind Raumverständnis und Abstraktionsvermögen deutlich verzögert (siehe Tabelle 1).
Eine weitere nicht zu unterschätzende Auswirkung sind die Folgen einer Sehbehinderung/Blindheit auf die Eltern und die Interaktion zwischen Kind und Eltern. Die Rückkoppelung ist gestört: Das Kind kann natürliche Signale der Eltern (Lächeln) visuell nicht aufnehmen und erwidern. Durch die fehlende reaktive Mimik wirkt das Kind auf die Eltern schläfriger, schlaffer, weniger interessiert an seiner Umwelt. Die Eltern wiederum sind durch das fehlende reaktive Lächeln, den fehlenden Blickkontakt beim Aufnehmen verunsichert. Dies führt nachgewiesenermaßen häufig dazu, dass der Eltern-Kind-Kontakt gestört wird, das Kind entweder häufiger liegen gelassen wird, dem Kind passiver gegenüber getreten wird oder auch eine lähmende Überbehütung eintritt. Genaue Information der Eltern ist hier sehr hilfreich, um Fehlentwicklungen vorzubeugen.
Die Störung der wesentlichen sensorischen Funktion, des Sehens, führt wie ausgeführt zu einer spezifischen Entwicklungsstörung mit Beeinträchtigungen komplexerer Fähigkeiten in kognitivem, motorischem und abstrahierendem Bereich. Es findet sich somit durch die Sehbehinderung ein Bild, bei dem die Abgrenzung zu tatsächlicher Lernbehinderung oft schwer ist.
Nur die Kenntnis dieser spezifischen Entwicklungsstörung ermöglicht die Differenzialdiagnose zu einer tatsächlichen geistigen Behinderung beziehungsweise pathologischen Entwicklungsverzögerung. Eine gezielte Behandlung der Störung der sensorischen Integration kann Defizite mindern, fördert gezielt das Kompensationspotenzial des Kindes zur Ausnutzung seines Sehrestes und bietet Hilfestellungen bei der Abgrenzung zu tatsächlichen Lernbehinderungen/geistigen Behinderungen. Gerade die Abgrenzung zu weiteren Behinderungsfolgen, wie bei Zustand nach Frühgeburtlichkeit, kann bei sehbehinderten Kindern Probleme bereiten: Sind manifeste Störungen im motorischen, kognitiven und sozial-emotionalen Bereich eher Zeichen einer allgemeinen Behinderung oder Folgen der Sehbehinderung mit nachfolgender Störung der sensorischen Integration?
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