Was wir sehen dürfen

Dem, was wir sehen, sagte Platon, ist nicht zu trauen. Dem Gesehenen ist sehr wohl zu trauen, sagte Berkeley, denn hinter dem, was wir sehen, ist schlichtweg nichts. Immanuel Kant fand den Kompromiss, und die Erkenntnisse der Atomphysik geben ihm heute womöglich recht. Nach der Darstellung der Philosophie des Sehens bei Berkeley sowie bei Platon erläutert Dr. Michael Ahlsdorf (Edingen) in diesem dritten Teil das philosophische System Kants.

Es herrschte große Aufregung unter den Philosophen, als sie Anfang der Dreißiger Jahre mit der revolutionären Quantenmechanik konfrontiert wurden. Sie diskutierten lebhaft im Kreise des Atomphysikers Werner Heisenberg, unter ihnen der philosophisch geschulte Carl Friedrich von Weizsäcker und eine junge Philosophin namens Grete Hermann. Sie zeigte sich erschüttert von der Vorstellung, dass es mit dem von Kant so unverrückbar formulierten Gesetz der Kausalität, also der regelmäßigen Folge von Ursache und Wirkung, angesichts der Erkenntnisse der Atomphysiker ein Ende haben könnte (Heisenberg, S. 163f).

Eine Kausalität, so Grete Hermann ganz im Sinne von Immanuel Kant, sei die Vorbedingung aller Erfahrung. Eine seriöse Naturwissenschaft ohne Kausalgesetz sei nicht denkbar. Aber was die Atomphysiker sahen, das stellte gerade alles, was wir bis dahin unter Raum und Zeit verstanden, infrage.

Sehen, was man nicht sieht

Dabei sahen die Atomphysiker ja gar nicht wirklich. Sie hatten nur Apparaturen entwickelt, mit denen Wirkungen zu sehen waren, die auf Atome schließen ließen. Das wiederum dürfte den stets theologisch geschulten Philosophen ein wohlvertrauter Effekt gewesen sein. Auch Gott, so klärte uns Thomas von Aquin im Mittelalter auf, kann man nicht sehen, erst recht nicht erkennen. Man kann nur durch bestimmte Wirkungen auf seine Existenz und seine Eigenschaften schließen. Der Name „Gott“ sei damit auch nur eine Tätigkeitsbezeichnung, ein „nomen operationis“ (Thomas, Summa Theologica, 1 q.13, a.9).

Mehr dazu im AUGENSPIEGEL Juni 2023.

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