Schütteltrauma und Augenveränderungen
In den USA und Kanada wird dem Schütteltrauma, dem so genannten Shaken-Baby-Syndrom, das auch mit Augenbeteiligung einhergeht, eine größere Bedeutung beigemessen als hierzulande, wobei insbesondere der Prävention und Aufklärung ein großes Anliegen gilt. In zweijährigem Turnus tagt die North American Conference on Shaken Baby Syndrome (Abusive Head Trauma). Von der letzten Tagung zum Thema, der Seventh North American Conference on Shaken Baby Syndrome in Vancouver, Kanada, berichtet Dr. Udo Hennighausen.
Die Seventh North American Conference on Shaken Baby Syndrome zum so genannten Shaken-Baby-Syndrom (SBS) oder auch Schütteltrauma stand für alle Teilnehmer offen, die sich mit diesem sehr traurigen, aber wichtigen Thema befassen. Neben Fachgruppen waren auch betroffene Familien eingeladen, zu denen man auch persönlichen Kontakt aufnehmen konnte. Von den fast 800 Teilnehmern kamen etwa 95 Prozent aus Nordamerika, der Autor war der einzige Teilnehmer aus Deutschland.
In mehr als 100 Beiträgen wurde die gesamte Bandbreite dieses Themas gezeigt: Vorträge, Workshops, Keynote Lectures und Posterpräsentationen gaben eine umfassende Übersicht: Die Geschichte, die vielfältigen klinischen Aspekte, die rechtlichen Fragen, Bioengineering, Labordiagnostik und der Bezug des SBS zu Basiswissenschaften wurden behandelt. Die Referenten, neben internationalen Experten auch Angehörige von Betroffenen, kamen überwiegend aus Nordamerika, einige aus Großbritannien und aus Australien, nur wenige aus Kontinentaleuropa einschließlich der Türkei und aus Japan. Der vermutlich älteste Teilnehmer war mit über 90 Jahren Prof. Dr. A. Norman Gutkelch aus Großbritannien, ein emeritierter Neurochirurg, der in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Erster das SBS erkannt hatte.
Augenveränderungen beim Shaken-Baby-Syndrom
Speziell die Augenveränderungen betreffend wurden acht Präsentationen geboten, insbesondere von international renommierten Experten, die auch in der 2007 erschienenen Arbeit von Rohrbach und Mitarbeitern (Tödlicher Unfall oder Kindesmisshandlung mit Todesfolge: Die Netzhaut als „letzter Zeuge“. ZPA 28: 440-450) sowie in der diesem Thema gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift Rechtsmedizin (Rechtsmedizin, Band 18, Heft 1, Februar 2008) zitiert sind.
Prof. Dr. Kieran Moran, Pädiater (Randwick, Australien), berichtete über eine schwere hämorrhagische Retinopathie mit unfallbedingter Retinoschisis im Bereich der Makula bei einem zweijährigen Kind nach einem Sturz aus elf Meter Höhe auf einen Betonfußboden. Das ophthalmoskopische Bild entsprach dem, welches man bei Kindern nach einem Schütteltrauma findet.
Prof. Dr. Patrick Lantz, Rechtsmediziner (Winston-Salem, North Carolina), demonstrierte die Technik der postmortalen Fotodokumentation des Augenhintergrundes und zeigte beeindruckende Bilder von hämorrhagischen Retinopathien und verwandten Anomalien.
Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Alex Levin, Kinderophthalmologe (Toronto, Kanada und Cincinatti, Ohio) erklärte in mehreren Beiträgen die Fundusveränderungen beim SBS sowie die mögliche Abgrenzung zu Netzhautblutungen aus anderer Ursache. Interessant waren auch Befunde der Anatomie der Augen der Spechte, deren Kopf durch das Hämmern erheblichen Erschütterungen ausgesetzt ist: Spechte haben primär eine hintere Glaskörperabhebung und auch intraokular einen Pektinkamm.
Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Brian J. Forbes, Ophthalmologe, (Philadelphia, Pennsylvania) versuchte in ihrem Referat die Wahrscheinlichkeit der Misshandlung von Kindern, bei denen Netzhautblutungen vorliegen und gleichzeitig der Verdacht auf Kindesmisshandlung besteht, zu quantifizieren, wobei sie aber letzten Endes nur Wahrscheinlichkeiten angeben konnten: Lediglich schwere akzidentelle Schädelhirntraumata führen zu Netzhautblutungen, epidurale Hämatome können mit eher spärlichen Netzhautblutungen assoziiert sein. Beim nicht akzidentellen Schädelhirntrauma sind die Blutungen in der Regel massiv, betreffen alle Schichten der Netzhaut, eine Abhebung des Gaskörpers von der Makula ist nicht ungewöhnlich, es können sogar massive Hämorrhagien im Glaskörper vorliegen (s. Abb.). Eine operative Behandlung der Glaskörperblutungen sei nicht angezeigt.
Abb. 1: Über asymmetrische/einseitige Hämorrhagien wird bei bis zu 21 Prozent aller Opfer eines SBS berichtet, die meistens, aber nicht ausschließlich, auf der Seite des Subduralhämatoms liegen (Abb.: © B. J. Forbes).
Prof. Dr. M. F. G. Gilliland, Rechtsmedizinerin (Greenville, North Carolina) berichtete über die Auswertung der Anamnese, der klinischen Symptomatik und des Obduktionsbefundes von 169 Fällen von Kindstod: Die Trias subdurale Blutung, Hirnödem und Netzhautblutungen liegt bei einem nicht akzidentellen SHT zwar häufiger vor als bei einem akzidentellen SHT, ist aber nicht beweisend für ein Schütteltrauma. Das verspätete Vorstellen des geschädigten Kindes in der Arztpraxis oder Klinik ist typisch für ein nichtakzidentelles SHT, aber nicht beweisend. Nur die Synopsis aller Befunde und der Anamnese kann die diagnostische Entscheidung “akzidentell oder nichtakzidentell“ eingrenzen oder sichern.
Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Clare Sheridan-Matney, Pädiaterin (Loma Linda, Kalifornien), berichtete über 33 Fälle von Schütteltrauma mit dokumentierten Netzhautblutungen, wobei sie insbesondere die soziale Situation der Täter oder Täterinnen und deren familiäre Beziehung zu dem geschädigten Kind darlegten: In einem Kollektiv von 24 Fällen wurden als Risikofaktoren für ein Schütteltrauma das Unverheiratetsein der Mutter, ein fehlender College-Abschluss und Arbeitslosigkeit der Eltern beziehungsweise der Betreuungspersonen sowie das Fehlen einer pränatalen Aufklärung über die Gefahren des Schüttelns von kleinen Kindern ermittelt. In 54,2 Prozent der Fälle war der Lebensgefährte der Mutter der Täter, in 33,3 Prozent der biologische Vater, in 8,3 Prozent die Mutter des Kindes selber und in 4,2 Prozent ein Pflegeelternteil, zu 91,6 Prozent waren die Täter männlichen Geschlechtes.
Gespräche mit Betroffenen
Der Autor nahm auch Kontakt zu einer betroffenen Familie auf: Debbie Dycus war mit ihrer Großnichte Taylor Nicole zu der Konferenz angereist: Taylor Nicole erlitt im Alter von zehn Wochen ein schweres Schütteltrauma und wurde seitdem von ihrer Großtante Debbie Dycus betreut und gepflegt bis sie wenige Monate nach dem Kongress, erst neun Jahre alt, leider verstarb. Das Kind hatte aufgrund des Schütteltraumas eine hochgradig herabgesetzte Sehschärfe, am rechten Unterlid eine Neigung zum Entropium sowie schwere zerebrale Schäden mit der Folge einer starken Behinderung und Neigung zu epileptischen Anfällen. Debbie Dycus ist seit Jahren in der Präventionsarbeit gegen das Schütteltrauma aktiv und hat die Erlaubnis zur fachgebundenen Veröffentlichung der Krankengeschichte von Taylor Nicole gegeben, da Empathie in der Präventionsarbeit eine große Bedeutung hat.
Fazit und Ausblick
Bezogen auf die rein klinischen augenärztlichen Aspekte des Schütteltraumas bot die Konferenz gegenüber der oben erwähnten deutschsprachigen Literatur nichts eindeutig Neues. Aber eine Tagung speziell zu diesem Thema mit einer derart weitgehenden Synopsis ist dem Autor im deutschsprachigen Raum nicht bekannt und er plädiert dafür, auch in Deutschland dieses wichtige Thema in Form einer ähnlichen Konferenz aufzugreifen. Auch ist die Teilnahme an einem internationalen Kongress zum Shaken-Baby-Syndrom allen Kollegen und Kolleginnen zu empfehlen, die sich mit der Thematik des Schütteltraumas, auch in Abgrenzung zum unfallbedingten Schädel-Hirn-Trauma, befassen.
Tagungen, Informationen und Ansprechpartner:
Die nächste Konferenz des National Center on Shaken Baby Syndrome, die „Eleventh International Conference on Shaken Baby Syndrome/Abusive Head Trauma“ wird vom 12. bis 14. September 2010 in Atlanta, Georgia, stattfinden (http://www.dontshake.org). Founder und Executive Director ist Mrs. Marilyn Barr (.(Javascript muss aktiviert sein, um diese Mail-Adresse zu sehen)).
Weitere Organisationen in Nordamerika sind:
National Shaken Baby Coalition mit Mrs. Debbie Dycus als Cofounder (http://www.shakenbabycoalition.org/ .(Javascript muss aktiviert sein, um diese Mail-Adresse zu sehen)).
BC Children’s Hospital in Vancouver (http://www.dontshake.ca), Provincial Coordinator ist Mrs. Jocelyn Conway (.(Javascript muss aktiviert sein, um diese Mail-Adresse zu sehen)). Diese Organisation bereitet Informationsschriften in mehreren Sprachen, auch in Deutsch, vor.
Massachusetts Citizens for Children (http://www.masskids.org), Executive Director ist Mrs. Jetta Bernier (.(Javascript muss aktiviert sein, um diese Mail-Adresse zu sehen)).
In Deutschland ist für Interessierte die „8. Internationale Kasseler Fortbildung zu medizinischer Diagnostik bei Kindesmisshandlung“ am 5. und 6. März 2010 zu empfehlen (http://www.kindesmisshandlung.de).
Ansonsten sind in Deutschland Ansprechpartner und Informationsstellen der Deutsche Kinderschutzbund, die Ärztekammern, die Sozialministerien und auch das Internetportal der Technikerkrankenkasse in Zusammenarbeit mit Landesärztekammern (http://www.gewalt-gegen-kinder.de). Diese Aufzählung ist mit Sicherheit aber nicht vollständig.
Weiterführende Literatur:
B. Herrmann, R. Dettmeyer, S. Banaschak, U. Thyen: Kindesmisshandlung, Medizinische Diagnostik, Intervention und rechtliche Grundlagen (2008), Springer Medizin Verlag Heidelberg, ISBN 978-3-540-77445-7
L. Frasier, K. Rauth-Farley, R Alexander, R. Parrish: Abusive Head Trauma in Infants and Children, A Medical, Legal, and Forensic Reference (2006), G. W. Medical Publishing, Inc.
St. Louis