GKV verlangt Brillenzuzahlung beim sechsjährigen Kind
An den Kosten für Sehhilfen und Brillen beteiligen sich die gesetzlichen Krankenkassen seit dem 1. Januar 2004 nur noch bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren sowie bei schwerer Sehbehinderung. Michael Herbst schildert den Fall der sechsjährigen sehbehinderten Jasmin Seidel, die für ihre Einschulung dringend eine neue Brille brauchte, und deren Krankenkasse auf eine Zuzahlung von ihrer von Sozialhilfe lebenden Familie bestand, die dieses Geld nicht aufbringen konnte.
Jasmin ist ein temperamentvolles Kind. Sie spielt gerne Playmobil, sieht fern, puzzelt und beschäftigt sich so, wie andere sechsjährige Kinder auch. Allerdings benötigt Jasmin aufgrund einer Sehbehinderung eine Brille. Im vierten Lebensmonat entdeckten die Ärzte Katarakt in beiden Augen. Mit sechs Monaten wurden Jasmin beide Linsen entfernt. Jasmin sieht mit Brille mehr als 20 Prozent, ohne sie weit weniger. Mit der anstehenden Einschulung war eine neue Brille dringend erforderlich. Inzwischen haben die GKV jedoch in Sachen Sehhilfen aus dem Sachleistungsanspruch einen Pauschalanspruch gemacht. Dies erlaubt der Gesetzgeber seit der letzten Gesundheitsreform. Die selbst sehbehinderte Mutter, Sandy Seidel, stand vor einem für sie unlösbaren Problem: Die Brille kostete 330 Euro und die von ihr zu leistende Zuzahlung betrug 205 Euro, da die gesetzliche Krankenversicherung nur 124 Euro, also 62 Euro pro Glas, übernehmen wollte.
Kredit für eine Brille?
Die Familie lebt von der Sozialhilfe. Vier Prozent vom Eckregelsatz (345 Euro für einen Erwachsenen) sind für Ausgaben im Gesundheitswesen vorgesehen, 13,80 Euro monatlich also. Sandy Seidel hatte schlicht das Geld nicht und da half es auch nichts, dass die Augenärzte ihr drohten, das Jugendamt einzuschalten, wenn die Brille nicht bald beschafft würde. Sie wandte sich an das Sozialamt, doch dort winkte man ab: § 54 des zwölften Sozialgesetzbuches (SGB XII) sage eindeutig, dass die Sozialhilfe nur das bezahle, was auch die GKV finanziert. Die Norm hat einen anderen Zweck: Sie springt dort ein, wo kein Leistungsanspruch gegenüber der GKV besteht. Immerhin, einen Kredit hätte Frau Seidel beantragen können, doch sah sie keine Chance, den unter den gegebenen Umständen zurückzuzahlen. Die Sozialämter sehen nicht ein, warum sie die Sparwut der GKV für ihre Kunden gegenfinanzieren sollen.
War der gesetzliche Auftrag an die GKV denn nicht, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen? „Im Grunde sind die Pauschalen nur zulässig, soweit sie für die Finanzierung der nötigen Leistung tatsächlich ausreichen“, erklärt Dr. Michael Richter, Sozialrechtsexperte und Geschäftsführer des Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS), „denn der Sachleistungsanspruch ist damit nicht in Frage gestellt“. Nur muss im Zweifel an jedem Einzelfall nachgewiesen werden, dass die Pauschalen zu niedrig sind und das ist ein langwieriges Unterfangen. „Der Witz ist, dass Jasmin Kontaktlinsen zuzahlungsfrei bekäme, weil es hier noch keine Pauschalen gibt“, schüttelt Richter den Kopf, „Nur versuchen Sie mal, einem kleinen Kind solche Linsen einzusetzen“. Der Jurist weiß, wovon er redet, denn er ist selbst blind und Vater einer sehbehinderten Zweijährigen. Aber Richter war in der Lage, einen hohen dreistelligen Betrag zuzuzahlen, um seiner Tochter eine optimale Sehhilfe zu beschaffen. Für ihn ein Muss: „Fehlversorgungen können zu enormen Entwicklungsverzögerungen führen.“ Richter rechnet denn auch damit, dass er künftig jährlich Ausgaben in dieser Höhe haben wird.
„Ein übles Spiel mit Patienten“
Eigentlich sollte die Sehhilfenversorgung mit der letzten Gesundheitsreform völlig aus dem Leistungskatalog der GKV verschwinden. Im letzten Moment gelang es den Fachverbänden, die bis dahin gültigen Pauschalen und damit mittelbar auch den Sachleistungsanspruch zumindest für jene Versicherten zu retten, die mit Sehhilfe weniger als 30 Prozent sehen und also im Sinne der Weltgesundheitsorganisation als sehbehindert gelten können. In Fachkreisen wird von einer Kostenexplosion im Bereich der Augenmedizin ausgegangen. Schließlich werden die Menschen immer älter und die Therapien nicht nur bei Altersfehlsichtigkeit immer teurer. Also nutzen die Kassen die ihnen zugebilligte Möglichkeit, per Leistungsvertrag mit einzelnen Lieferanten die Preise zu drücken.
Wer schließlich erblindet, erhält den billigsten aller verfügbaren weißen Stöcke, beim Lese-/Sprechgerät wird das Blindenschriftdisplay gestrichen und die Betroffenen werden auf diese Weise zu Analphabeten gemacht etc. „Das ist ein übles Spiel, was da mit den Patienten getrieben wird“, meint Michael Richter, „die GKV wissen, dass sich nur wenige Versicherte wehren und das nutzen sie gnadenlos“. Dem mündigen Patienten stehen durchaus rechtliche Möglichkeiten offen, erklärt er. „Bei Blindenführhunden gibt es beispielsweise einiges an patientenfreundlicher Rechtsprechung und der Rechtsweg hat oftmals durchaus Aussicht auf Erfolg.“ Doch Insider wissen auch: Der zuständige Senat beim Bundessozialgericht, der letzten Instanz in diesen Dingen, urteilt eher krankenkassenfreundlich.
Das Problem ist bekannt
Doch schuld sind sicher nicht nur die Krankenkassen. Letztlich muss sich die Gesellschaft entscheiden, ob sie die Kosten tragen will, die anfallen, um Sehverlust aufzuhalten und die Folgen zu lindern. Im Büro der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Karin Evers-Meyer (SPD), kennt man das Problem, vor dem die Seidels stehen. Doch offenbar kommt man regierungsintern nicht voran.
Jasmin hat inzwischen die benötigte Brille und die Schule macht ihr Spaß. Der DVBS finanzierte die Zuzahlung aus einem Rechtshilfefonds vor. Nun versucht Richter das Geld über § 33 SGB V von der GKV zurückzubekommen. Zumindest die Gefahr, dass sich die Angelegenheit per Verfristung erledigt, ist fürs erste gebannt. Sandy Seidel möchte gerne nach Friedberg ziehen, wo Jasmin die Sehbehindertenschule besucht. Verwaltungs- oder Rechtsanwaltsfachangestellte würde sie gerne werden. Es ist ihr zu wünschen, denn die nächste Brille kommt bestimmt.
Der Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) ist ein Zusammenschluss Betroffener, die selbstbestimmt leben und beruflich erfolgreich sein wollen. Der DVBS wurde 1916 von Prof. Dr. Carl Strehl gegründet, der zur gleichen Zeit auch die Deutsche Blindenstudienanstalt in Marburg ins Leben rief. Wichtigste Grundlage der Vereinsarbeit ist die Idee der Selbsthilfe: Ziel soll sein, wo immer dies möglich ist, durch eigene Initiative und selbstbestimmtes Handeln zum Erfolg zu kommen und gleichzeitig aber mit allen zusammenzuarbeiten, die dabei mitwirken können, diesen Erfolg zu sichern.
Bundesweit geben sich blinde und sehbehinderte Menschen gegenseitig Rat und Hilfe.
In Fachgruppen engagieren sie sich für ihre Selbstverwirklichung in Ausbildung, Beruf und Ruhestand.
Eigene Fortbildungen, Informationsdienste, Fachliteratur auf Audiokassette tragen dazu bei.
Die Vereinszeitschrift informiert auch Behörden, Arbeitgeber und alle Interessierten.
Der DVBS hilft auch bei rechtlichen Schwierigkeiten. Er gewährt allen Betroffenen rechtliche Beratung in Dingen, für die die Sehbehinderung ursächlich ist. Das kann auch eine kostenlose Rechtsvertretung für Mitglieder einschließlich der anfallenden Anwaltskosten bei Widerspruch und Klage bedeuten.