Gemeinsamkeiten im Sehsystem von Insekten und Säugetieren

Auf den ersten Blick haben die Augen von Säugetieren und Insekten nicht allzu viel gemein. Ein Vergleich der neuronalen Schaltpläne zum Erkennen von Bewegungen zeigt jedoch erstaunliche Parallelen zwischen Fliegen und Mäusen. Eine aktuelle Veröffentlichung in der Fachzeitschrift Nature Neuroscience beschreibt die Gemeinsamkeiten im Vergleich der Sehsysteme, teilt das Max-Planck-Institut für Neurobiologie mit.

Das Auge einer Fliege besteht aus über tausend Einzelfacetten, es kann einen Großteil der Kopfoberfläche bedecken und gewährleistet eine Art Panoramablick. Menschliche Augen sind dagegen zwar relativ klein, dafür aber beweglich. Farben sehen beide, jedoch unterscheiden sich die Farbspektren. Auch kann das Fliegenhirn über 80 Bilder pro Sekunde getrennt voneinander wahrnehmen, während beim Menschen schon bei 24 Bildern pro Sekunde die Grenze liegt. Die Insekten sehen somit schnelle Bewegungen viel besser und präziser als Menschen. Trotz all dieser Unterschiede ist das „Sehen“ für Fliegen und Menschen ein essentieller Sinn – und beide Sehsysteme haben ein ähnliches Problem: Einzelnen Fotorezeptoren „sehen“ nur einzelne Pixel des Gesamtbildes. Daher müssen Distanzen, Formen oder Bewegungen aus diesen Einzelinformationen vom Gehirn errechnet werden.

Alexander Borst vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried und Moritz Helmstaedter vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt konnten nun in ihrem Vergleich zwischen den Sehsystemen von Fliege und Maus zeigen, dass es für diese Berechnungen anscheinend ein paar sehr effiziente Grundregeln gibt. „Insekten und Säugetiere trennen rund 550 Millionen Jahre Entwicklung und doch gibt es erstaunliche Parallelen darin, wie ihr Gehirn visuelle Bewegungsinformationen verarbeitet“, erklärt Alexander Borst, der mit seiner Abteilung am Max-Planck-Institut für Neurobiologie das Bewegungssehen im Fliegenhirn entschlüsselt. „Es sieht so aus, als hätten wir hier eine sehr robuste Lösung für die neuronale Berechnung von Bewegungsrichtungen“, ergänzt sein Kollege Moritz Helmstaedter, der am Max-Planck-Institut für Hirnforschung die neuronalen Schaltpläne im Gehirn von Mäusen untersucht. In ihrem Artikel in der Fachzeitschrift Nature Neuroscience haben die beiden Forscher die System-Parallelen nun herausgearbeitet.

Trennen, verarbeiten und zusammenführen

Fotorezeptoren reagieren auf Kontraständerungen – sie erhöhen oder vermindern ihre Aktivität je nachdem, ob ein zuvor heller Punkt dunkel, oder ein dunkler Punkt hell wird. Alexander Borst und sein Team haben vor einigen Jahren im Fliegenauge gezeigt, dass Fotorezeptoren ihre Informationen an zwei Gruppen von Zellen weitergeben: Die eine reagiert nur bei einer Dunkel-Hell-Änderung („Licht an“), die andere Gruppe nimmt dagegen nur Hell-Dunkel-Änderungen („Licht aus“) wahr. Eine ähnliche Auftrennung der gerichteten Kontrastveränderungen ist in Form der ON- und OFF-Bipolarzellen seit über 40 Jahren aus der Wirbeltier-Netzhaut bekannt. Diese Parallele ist jedoch nur die erste von mehreren Ähnlichkeiten.

Nach der Aufspaltung in ON- und OFF-Kanäle wird in beiden Kanälen aus den Informationen verschiedener Fotorezeptoren die Bewegungsrichtung errechnet. Nachdem die Richtung der Bewegung ermittelt ist, werden die Informationen aus ON- und OFF-Kanälen wieder zusammengeführt und repräsentieren nun vier orthogonale Richtungen: nach rechts, links, aufwärts oder abwärts.

Bewährter Schaltplan als Basis

„Hier enden dann die bisher bekannten Parallelen“, resümiert Moritz Helmstaedter. Im Mäusegehirn findet die Fusion aus ON- und OFF-Kanälen noch recht früh in der Verschaltung statt. Die Bewegungsinformation stammt aus einem relativ kleinen Bereich des Sehfeldes und wird nun mit anderen Informationen verknüpft und in höhere Hirnregionen geschickt. In der Fliege hat die so errechnete Bewegungsrichtung dagegen bereits die Nervenzellen erreicht, die Einfluss auf das Verhalten haben: Die Bewegungsinformation stammt aus einem großen Bereich des Sehfeldes und die Nervenzellen können darauf aufbauend zum Beispiel eine Kurskorrektur durch die Flugmuskulatur auslösen.

Die nun gezeigten Parallelen in der Verarbeitung von Bewegungen könnten zwei Gründe haben: Der neuronale Schaltplan existierte bereits im gemeinsamen Vorgänger dieser doch sehr unterschiedlichen Tierarten. Alternativ haben sich in Wirbeltieren und Insekten die gleichen Schaltpläne unabhängig voneinander entwickelt. Welchen Ursprung die Parallelen auch haben, ihre Existenz zeigt, dass es sich hier um einen sehr robusten und bewährten Verarbeitungsweg handeln muss. „Wir gehen davon aus, dass dieser Schaltplan die bestmögliche Berechnung von Bewegungsrichtungen durch Nervenzellen darstellt – mit so wenigen Zellen wie nötig und so energieeffizient wie möglich“, fasst Alexander Borst die Ergebnisse zusammen. Eine Erkenntnis, die für die Entwicklung von künstlichen Systemen, aber auch für das Verständnis von Gehirnfunktionen eine wichtige Grundlage sein kann.

Originalpublikation:
Alexander Borst & Moritz Helmstaedter, Common circuit design in fly and mammalian motion vision, Nature Neuroscience, August 2015

Quelle:
Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried

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