Universität Tübingen: Abläufe des Rot-Grün-Sehens in der Netzhaut entschlüsselt

Wissenschaftler im Labor von Thomas Euler, Professor am Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften und dem Forschungsinstitut für Augenheilkunde an der Universität Tübingen beschäftigen sich seit Jahren mit Fragen der Verarbeitung von Farb-Information in der Retina und zeigen nun in ihrer Veröffentlichung im Wissenschaftsjournal „Neuron“, dass es auch von der Farb-Präferenz der lichtempfindlichen Photorezeptoren in der Umgebung einer Ganglienzelle abhängt, ob diese farbantagonistisch reagiert oder nicht. Nach Mitteilung der Universität Tübingen untersuchten sie dazu Mäuse, die eine ungewöhnliche Photorezeptor-Verteilung in ihrer Retina aufweisen: grün-empfindliche findet man vorwiegend in der oberen Hälfte der Retina, während blau-empfindliche die untere Retinahälfte dominieren. Das ist für Säugetiere höchst ungewöhnlich. Anders als erwartet, hat sich dabei gezeigt, dass Mäuse trotzdem ein ausgezeichnetes Modellsystem für die Untersuchung wichtiger Aspekte des Farbsehens darstellen.

Unsere Augen sind komplizierte Sinnesorgane. Allein die Netzhaut (Retina), ein dünnes Nervengewebe, enthält viele Millionen Neurone und damit die Grundlage für unser Sehen – und das in Farbe. Möglich wird das Farbsehen durch bestimmte Neurone in der Retina. Sie gehören zu den Ganglienzellen, die das Auge mit dem Gehirn verbinden und selektiv auf bestimmte Wellenlängen des Lichts und damit auf „Farbe“ reagieren. Bei Menschen und anderen Primaten werden diese Zellen beispielsweise aktiv, wenn rotes Licht ins Auge fällt, während grünes Licht sie hemmt. Eine wichtige Frage ist, wie diese „farbantagonistischen“ Ganglienzellen in der Retina verdrahtet sind, damit sie Wellenlängen unterscheiden können und wir Farben wahrnehmen.

Die Forscher fanden heraus, dass Ganglienzellen, die vorher nie mit Farbsehen in Verbindung gebracht wurden, plötzlich ein farbantagonistisches Antwortverhalten zeigten, wenn sie sich in der Nähe der Grenze zwischen den beiden grün- bzw. blauempfindlichen Retinahälften befanden. Diese Ergebnisse zeigen, dass Farbsehen auch auf der Basis von neuronalen Retina-Schaltkreisen möglich ist, die zufällig und nicht speziell für diese Aufgabe verdrahtet sind.

Diese Ergebnisse bringen nach Einschätzunmg der Universität auch unser Verständnis des Farbsehens bei Menschen und anderen Primaten – unter den Säugetieren die „Farbspezialisten“ – einen wichtigen Schritt voran. Bereits vor Jahren wurde vermutet, dass zufällig verdrahtete Retina-Schaltkreise die Grundlage des rot-grün Farbsehens darstellen. Diese Fähigkeit, die unter den Säugetieren auf Primaten beschränkt ist, wird auf eine Genverdopplung zurückgeführt, die nach Evolutionsmaßstäben erst „kürzlich“ stattgefunden hat, sodass nicht genügend Zeit für die Anpassung der Retina-Schaltkreise war. Die neuen Daten aus Tübingen unterstützen diese Hypothese und zeigen, dass es im Hinblick auf die generellen Prinzipien der Farbverarbeitung mehr Gemeinsamkeiten zwischen Mäusen und Primaten gibt als bislang angenommen.

Neben der finanziellen Unterstützung durch das CIN wurde das Projekt durch Mittel der Forschergruppe “Dynamik und Stabilität retinaler Verarbeitung” (FOR701) ermöglicht, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird.

Originalpublikation:
Le Chang, Tobias Breuniger, Thomas Euler. “Chromatic Coding from Cone-type Unselective Circuits in the Mouse Retina”, Neuron, Volume 77, Issue 3, 6 February 2013.

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