Medica 2006

IT-Vernetzung an allen Ecken und Enden
Was sich in den letzten Jahren schon andeutete, in diesem Jahr war es nicht mehr zu übersehen: Die elektronische Vernetzung im Gesundheitswesen war das Megathema der Medica 2006. Elektronische Akten werden Teil der Regelversorgung, mit, aber durchaus auch ohne Chipkarten. Druck machen vor allem die Kliniken. Ein Bericht von Philipp Grätzel von Grätz.

Schon rein messearchitektonisch wurde die wachsende Bedeutung der Informationstechnik im Gesundheitswesen auf der Medica deutlich. Die kleine Halle 17 wurde aufgegeben. Die IT-Anbieter durften sich in den angrenzenden, größeren Hallen breit machen. Gleich am ersten Messetag schob das gastgebende Nordrhein-Westfalen das Thema elektronische Gesundheitskarte ganz weit nach vorn: Die Vorstände von Barmer Ersatzkasse, Techniker Krankenkasse und Deutscher Angestellten Krankenkasse waren persönlich nach Düsseldorf gekommen, um jeweils einem ihrer Versicherten die ersten echten elektronischen Gesundheitskarten auszuhändigen.

„Weihnachtskarten“ läuten Testphase ein

Tatsächlich können die ausgegebenen Karten in den Musterumgebungen der Testregionen eingesetzt werden. Dass es dann, entgegen der Beteuerungen der anwesenden Politgrößen, doch noch nicht jene Karten waren, mit denen die Patienten in den beiden Testregionen Flensburg und Löbau-Zittau ab Januar ausgewählte Ärzte besuchen werden, wer wollte es schon so genau wissen. Die Inszenierung der Medica 2006 als Startschuss der Testphase für die eCard jedenfalls dürfte zumindest die Verantwortlichen zufrieden gestellt haben. Tiefer in die Details gehen konnten Messebesucher dann am Stand der Betriebsorganisation für die elektronische Gesundheitskarte, der gematik. Sie war erstmals auf der Medica vertreten und präsentierte praktische Anwendungsszenarien der künftigen Gesundheitskarte wie die Bestellung eines Wiederholungsrezepts beim Arzt per Telefon (ohne PIN-Eingabe des Versicherten) und die Aktualisierung der Versichertendaten nach einem Umzug.
Parallel zu den Demonstrationen konnte sich jeder in aller Breite über die aktuellen Pläne in Sachen Karteneinführung informieren. Stand der Dinge ist, dass mehrere Krankenkassen bis Ende 2006 jeweils 2000 bis 3000 elektronische Gesundheitskarten an ihre Versicherten verschickt haben wollen. Die Rate an spontaner Zustimmung der Versicherten zur Teilnahme an den Tests scheint dabei weit über neunzig Prozent zu liegen. Die ausgegebenen Karten können ab Januar in den schon vor einiger Zeit für die so genannten 10.000er-Test benannten Arztpraxen in Flensburg und Löbau/Zittau eingesetzt werden. Eingelesen werden sie mit dem vielen Ärzten schon bekannten Multifunktionskartenterminal. Anfangs werden dabei lediglich administrative Daten ausgelesen. Die Deutsche Angestellten-Krankenkasse hat aber bereits angekündigt, dass sie bis Mitte 2007 in den Testregionen die Online-Überprüfung der Versichertendaten realisieren möchte. Kartenbasierte Funktionen wie die Speicherung eines elektronischen Rezepts auf der Gesundheitskarte und das Aufbringen von elektronischen Notfalldaten könnten zumindest in Flensburg und Löbau/Zittau ebenfalls noch in der ersten Jahreshälfte 2007 realisiert werden. Wichtige Bestandteile des Online-Systems, das die Kartenlösungen ablösen beziehungsweise ergänzen wird, wurden von der gematik bereits ausgeschrieben.

Praxen und Kliniken machen sich auf in die Online-Welt

Mindestens genauso viel Aufmerksamkeit wie der elektronischen Gesundheitskarte galt auf der Medica den diversen Initiativen, die die Trennung zwischen ambulantem und stationärem Sektor beziehungsweise zwischen den Einrichtungen eines Sektors elektronisch aufbrechen wollen. Hierbei handelt es sich größtenteils nicht mehr um Pilotprojekte, sondern um Angebote, mit denen viele Ärzte jetzt oder in naher Zukunft im Alltag konfrontiert werden. So weitet der Asklepios-Konzern sein vor einem Dreivierteljahr als Pilotprojekt gestartetes Einweiserportal deutlich aus. In einem Jahr soll es bereits die Hälfte aller niedergelassenen Ärzte nutzen können. Die Kollegen können dann auf die im Kliniksystem gespeicherten Daten der von ihnen eingewiesenen Patienten mittels Chipkarte zugreifen. Außerdem können sie elektronisch eine Zweitmeinung einholen. Auch die beiden zum Rhön-Konzern gehörenden Kliniken Universität Gießen und Klinikum Braunfels vernetzen sich miteinander und mit zunächst neunzig niedergelassenen Haus- und Fachärzten. Technische Basis ist hier eine elektronische Fallakte, die auf der Kommunikationsplattform CIMECS (Central Interdisciplinary Medicare System) aufsetzt. Sie erlaubt den Datenaustausch zwischen Kliniken und Praxen in beiden Richtungen.

Der Vernetzung zwischen ambulantem und stationärem Sektor dient auch das Werkzeug jesaja.net, das das Unternehmen Ispro auf der Medica erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Es ergänzt die mittlerweile von rund 200 Kliniken eingesetzte Einweiserlösung Jesaja um eine Kommunikationskomponente, mit der es für die Klinik relativ problemlos möglich wird, komplette vordefinierte Datensätze in eine webbasierte Gesundheitsakte zu überspielen, so eine solche vorhanden ist. Der Walldorfer Internetaktenanbieter InterComponentWare hat mit Praxis4more ebenfalls ein leistungsfähiges Integrationswerkzeug entwickelt. Es bindet Praxis-EDV-Systeme an die Online-Welt an, ohne dass an der EDV selbst Veränderungen nötig sind. Das Werkzeug ist unter anderem für Praxisnetze und integrierte Versorgungsszenarien interessant, in denen die beteiligten Ärzte über eine an die jeweiligen EDV-Systeme angedockte Online-Akte kommunizieren wollen. Vorteil ist, dass ein integriertes Kommunikationsnetz geschaffen wird, ohne dass die Ärzte dafür eine einheitliche Praxis-EDV anschaffen müssten. Das ist nämlich bei einigen anderen Kommunikationslösungen der Fall.
Den Trend zur „Arztpraxis online“ illustriert schließlich das von der CompuGroup vorgestellte Werkzeug DocPortal, das ab Januar 2007 per Update in alle CompuGroup-Systeme (MediStar, DataVital, Turbomed, CompuMed, Albis) eingespielt wird. Es dient dazu, der Praxis-EDV aktuelle medizinische und abrechnungsrelevante Informationen zur Verfügung zu stellen. So werden beispielsweise Dokumente, die im Zusammenhang mit Integrationsverträgen relevant sind, fachgruppenspezifisch und regional abgestimmt zur Verfügung gestellt. Nach der Vorstellung des Arzneimittelprogramms i:Fox durch die CompuGroup-Tochter ifap im August ist DocPortal schon die zweite Anwendung dieses Herstellers, die darauf setzt, dass alle Ärzte mit ihrer EDV früher oder später online sein werden. Das ebenfalls mögliche Einspielen der Informationen per Update-CD ist nur als Ausweichlösung gedacht.

300.000 schottische Augen in einem Jahr

Natürlich war IT nicht alles auf der Medica. Die 137.500 Besucher konnten sich an den Ständen von knapp 4300 Ausstellern vier Tage lang fast die gesamte Welt der Medizin zu Gemüte führen. Die Verschiebung des weltwirtschaftlichen Gleichgewichts gen Asien war dabei deutlich zu beobachten: China war in diesem Jahr mit 355 Ständen erstmals die zahlenmäßig größte ausländische Ausstellernation. Auch Augenärzte, die sich nicht für Kommunikationstechnik interessierten, kamen da auf ihre Kosten. Fast schon traditionell war beispielsweise auch in diesem Jahr wieder eine ophthalmologische Innovation unter den medizintechnischen Neuentwicklungen, die auf der Sonderschau Medica Vision präsentiert wurden. Es handelte sich um einen neuen optischen Kohärenztomographen, der von dem Unternehmen Carl Zeiss Meditec entwickelt wurde. Er liefert detaillierte Schnittbilder der vorderen Augenkammer unter Einbeziehung des vorderen Kammerwinkels. Das Auge muss dazu nicht einmal berührt werden. Durch die Vermessung des vorderen Augenwinkels kann ein akutes Glaukom beurteilt werden. Auch Unebenheiten der Hornhaut sind sichtbar und die Hornhautdicke lässt sich berechnen, zum Beispiel im Vorfeld von Laserbehandlungen.

Ebenfalls mit einer ophthalmologischen Neuheit konnte das Unternehmen Siemens aufwarten. Die Erlanger stellten eines der bisher größten Screeningprojekte für diabetische Retinopathie vor. Bei dem in Schottland angesiedelten Projekt, das zusammen mit dem britischen National Health Service durchgeführt wird, sollen pro Jahr 300.000 Augenuntersuchungen mit Funduskameras an insgesamt 73 Messorten gemacht werden. Alle Menschen über zwölf Jahren haben das Recht auf jährlich eine Untersuchung. Ausgewertet werden die Bilder von fünf augenärztlichen Zentren. Aufnahme, Datenübertragung und Befundübermittlung erfolgen dabei komplett digital.

Sollte sich unter den gesammelten Augenhintergründen auch der eine oder andere Fundus hypertonicus finden, so könnte sich der Betreffende übrigens an das Unternehmen InterCure aus Israel wenden. Das hat nämlich ein innovatives Gerät zur Senkung des Blutdrucks im Angebot, das im Anschluss an die Medica in Europa vermarktet werden soll. Es handelt sich um ein Gerät, bei dem der Hochdruckpatient von beruhigender Musik untermalt und angeleitet von einer sanften Stimme seine Atemfrequenz verringert. In einer klinischen Studie sank der systolische Blutdruck um 14mmHg und der diastolische um 8mmHg, wenn die Prozedur viermal pro Woche eine Viertelstunde lang durchgehalten wurde. Auch das ist Medizin.

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