Interdisziplinäre Diskussion von Augenmotilitätsstörungen
Eine interdisziplinäre Fortbildung zum Thema Augenmotilitätsstörungen stand im Mittelpunkt der letzten Basler Fortbildungstage, zu der unter Vorsitz von Prof. Dr. Josef Flammer, Chefarzt der Augenklinik des Universitätsspitals Basel, der Verein zur Förderung der Weiterbildung in der Augenheilkunde eingeladen hatte. Rund 600 Augenärzte waren der Einladung zur Tagung gefolgt, über die Dr. Udo Hennighausen berichtet.
Zu den Basler Fortbildungstagen konnte Prof. Dr. Josef Flammer, Chefarzt der Augenklinik des Universitätsspitals Basel und Tagungsvorsitzender, rund 600 teilnehmende Augenärzte begrüßen. In 21 Referaten und unter fachlicher Leitung von Prof. Dr. Anja Palmowski-Wolfe wurde das Thema Augenmotilitätsstörungen interdisziplinär dargestellt.
Fehlendes Stereosehen und Schielen
Prof. Dr. Daniel Mojon, St. Gallen, berichtete über neue Untersuchungsmethoden sowie Therapiemöglichkeiten zum Thema Innenschielen: Mit dem modifizierten, „verdeckten“ Trefftest (Covered Two Pencil Test) kann man wesentlich besser ein bereits lange bestehendes fehlendes Stereosehen von normalem Stereosehen unterscheiden, da monokulare, erlernbare Strategien bei dieser Testvariante kaum hilfreich sind. Die Stelle, an der die zwei Stifte einander treffen sollen, wird von der untersuchenden Person mit Daumen und Zeigefinger oder drei Querfingern verdeckt (Abb. 1).
Abb. 1: Bei dem modifizierten („verdeckten“) Trefftest deckt die Untersucherin die Spitze des Stiftes mit drei Querfingern oder Zeigefinger und Daumen ab.
Abb. 2: Die Untersucherin bewegt einen Stift transversal (in Pfeilrichtung) über einen zweiten Stift, während die Probandin mit einem Auge durch ein Filterglas sieht.
Mit Hilfe des Pulfrich-Phänomens wird das Stereosehen dynamisch getestet: Der Patient hält ein 0.9-log-Filterglas, welches einer Transmission von 12,5 Prozent entspricht, vor ein Auge, der Untersucher, der dem Patienten gegenübersteht, bewegt einen Stift transversal über seinen eigenen Daumen alternativ über einen zweiten Stift, bei Vorliegen eines Stereosehens nimmt der Patient eine ellipsenförmige Bewegung wahr (Abb. 2). Bei fehlendem Stereosehen und manifestem Schielen kann dieser Test unter Prismenausgleich wiederholt werden (Ophthalmology 1998).
Prof. Dr. André Roth, Vessy, sprach sich in seinem Vortrag über das Außenschielen wegen der Gefahr eines Verlustes an Binokularität für eine Operation im Alter von bereits etwa vier Jahren aus. Dieser Zeitpunkt wurde kontrovers diskutiert. Wichtig sei auch, die Augenstellung beim Blick in 50 m Entfernung zu prüfen, eine etwaige Amblyopie zu therapieren, ein präoperativer Prismenausgleich und der Operation den Basiswinkel, der gleichzeitig der Maximalwinkel ist, zugrunde zu legen.
Dr. Giorgio Klainguti, Lausanne, betonte in seinem Referat über das torsionale Schielen die Bedeutung von großen Maddox-Zylinder-Gläsern, die auch das periphere Sehen erfassen sowie die subklinische beidseitige Trochlearisparese, bei der eine Exozyklotorsion nur im Abblick zu finden ist. Hilfreich für die Diagnose dieser Motilitätsstörung kann es auch sein, den Lang-Test von oben nach unten zu führen, um die Zone des Stereosehens zu erfassen.
Prof. Dr. Hanspeter Killer, Aarau, zeigte in seinem Vortrag, dass Schielchirurgie Wiederherstellungschirurgie und nicht „kosmetische“ Chirurgie ist: In den Gesichtern allgemein als schön empfundener Personen, nicht nur auf Gemälden, sondern auch in der Wirklichkeit, findet man die Maße des so genannten goldenen Schnittes, der von den Griechen erkannt und durch die Zahl Φ mathematisch dargestellt ist (Abb. 3 links).
Abb. 3: Der „goldenen Schnitt“ kennzeichnet ein von uns als schön empfundenes Gesicht (links) Die Blickbewegungen bei der Betrachtung des Gesichtes (rechts) erfolgen nach Strategien, die den Gesetzen des goldenen Schnittes entsprechen und damit unserer Vorstellung von Schönheit (© H. Killer).
Aufzeichnungen von Augenbewegungen haben ergeben, dass bei der Betrachtung eines Gesichtes in erster Linie die Pupillen des Gegenübers als Referenzpunkte angenommen werden. Die Betrachtung des Gesichtes erfolgt nach Strategien, die den Gesetzen des goldenen Schnittes entsprechen und damit unserer Vorstellung von Schönheit (Abb. 3 rechts). Eine Abweichung, wie der Anblick einer Fehlstellung der Augen, tangiert die in unserem Gehirn verankerte Vorstellung von der Harmonie des Menschen. Diese Vorstellung ist in unserem psychosozialen Bewusstsein viel tiefer verankert als die Frage einer „Verschönerung“, einer Kosmetik, bei zumindest einigermaßen harmonischen Gesichtszügen mit normaler Augenstellung.
Paresen
Dr. Cristina Gerth, Rostock, betonte in ihrem Vortrag über die Parese des Okulomotorius, dass im Erwachsenenalter hierfür ein Aneurysma die häufigste Ursache ist. Wenn außer den äußeren Augenmuskeln auch die Pupille betroffen ist, ist eine umgehende Bildgebung zum Ausschluss beziehungsweise Finden eines Aneurysmas angezeigt, eine normale Pupillenreaktion schließt aber das Vorliegen eines Aneurysmas nicht aus.
Prof. Dr. Klara Landau, Zürich, erklärte in ihrem Vortrag über die Trochlearisparese den Dreistufentest zur Diagnosefindung von Parks (1958), der zum Teil auf dem Bielschowsky Kopfneigetest beruht, den Bielschowsky 1935 in den Archives of Ophthalmology beschrieben hat. Bei einer Myokymie des Musculus obliquus superior kann eine Tenotomie helfen.
In seinem Vortrag über die Abduzensparese wies Prof. Dr. Heimo Steffen, Würzburg, auf die Gefahr der Fehldiagnose „trockenes Auge“ und „zu viel Stress“ bei Vorliegen eines kleinen Schielwinkels hin, der sich für den Patienten möglicherweise nur in „verschwommenem Sehen“ bemerkbar macht.
Dr. Oliver Job, Luzern, betonte in seinem Referat über die supranukleären Augenmotilitätsstörungen die Bedeutung der richtigen Sakkadenprüfung, die in horizontaler und in vertikaler Richtung geprüft werden müssen: Prüft man die Augenmotilität im Sinne der Folgebewegungen, findet man beispielsweise bei einer internukleären Ophthalmoplegie unter Umständen keine Auffälligkeiten. Prüft man jedoch die Augenmotilität, indem man den Patienten bei starrer Kopfhaltung rasch abwechselnd nach rechts und nach links auf ein Ziel, zum Beispiel einen Bleistift, blicken lässt, sieht man verlangsamte Adduktionssakaden.
Priv.-Doz. Dr. Günther Rudolph, München, erläuterte die Krankheitsbilder der congenitalen cranialen Dysinnervationssyndrome (CCDS), zu denen auch das kongenitale Fibrosesyndrom zählt. Bei diesem Syndrom sollte wegen der Gefahr der später auftretenden Veränderungen an der Gewebestruktur des Muskels eine operative Korrektur bereits im Kleinkindesalter erfolgen.
Nystagmus
„Nystagmus – wen schicke ich wohin?, lautete das Thema von Priv.-Doz. Dr. Dominik Straumann, Zürich: Ein akuter horizontaler Spontannystagmus (eventuell mit leichter torsioneller Komponente) bei gleichzeitigem Drehschwindel ist zu 99,9 Prozent peripher-vestibulären Ursprungs, wenn der Kopfimpulstest pathologisch ist (eine schnelle Kopfbewegung zur Seite der langsamen Nystagmusphase führt zu einer „Catch-Up“-Sakkade in Richtung zur gesunden Seite hin; siehe Abb. 4). Die Behandlung liegt in den Händen von Neurologen oder Otologen. Ursache ist nach heutiger Auffassung oft eine vestibuläre Neuritis durch Herpes-simplex-Virus, Typ I. Hochdosiertes, perorales Kortison, eine Woche lang gegeben, führt zu einer nachweisbaren Erholung. Eine Wirkung von Aciclovir ist nicht bewiesen, wahrscheinlich deshalb, weil der Therapiebeginn meist zu spät erfolgt. Ist der Kopfimpulstest hingegen normal oder bestehen vertikale Doppelbilder, ist bis zum Beweis des Gegenteils von einer Läsion im Kleinhirn/Hirnstamm auszugehen und eine Bildgebung muss umgehend erfolgen.
Abb. 4: Kopfimpulstest (© Priv.-Doz. Dr. Dominik Straumann): Falls kein Bandscheibenschaden im Bereich der Halswirbelsäule besteht, wird der Patient aufgefordert, die Nasenwurzel des Untersuchers zu fixieren. Dieser fasst den Kopf mit beiden Händen und dreht ihn schnell zu Seite der langsamen Phase des Nystagmus: Halten die Augen die Fixation, ist der Kopfimpulstest normal, kommt es jedoch zu einem kurzen Verlust mit anschließender Wiederaufnahme der Fixation („Catch-Up“-Sakkade), so ist dieser Test pathologisch und spricht für einen peripher vestibulären Ursprung auf der Seite des pathologischen Ergebnisses.
Dr. Christina Pieh, Freiburg, berichtete über die operative und die medikamentöse Therapie des Nystagmus: In erster Linie wird der frühkindliche Nystagmus operativ, der erworbene medikamentös behandelt. Es kann bei einem Nystagmus aufgrund einer Multiplen Sklerose auch durchaus eine Augenmuskeloperation zusätzlich zur medikamentösen Therapie mit Gabapentin oder auch Memantin angezeigt sein. Die medikamentöse Therapie ist erst neueren Ursprungs, die Indikationen sind: Für den frühkindlich idiopathischen Nystagmus Gabapentin, für den Downbeat Nystagmus 4-Aminopyridin, für den Blickrichtungsnystagmus und den erworbenen Nystagmus Gabapentin/Memantin, für den periodisch alternierenden Nystagmus Baclofen. Eine Frage blieb offen: Darf man einem Führerscheinbewerber mit kongenitalem Nystagmus und einem Visus von 0,4 nach Besserung des Visus auf 0.5 aufgrund der Einnahme von Gabapentin hinsichtlich der Sehfähigkeit die Fahrerlaubnis bescheinigen?
Diagnostik und Therapie
Prof. Dr. Hedwig Kaiser, Basel, berichtete über US-amerikanische Studien zur Amblyopietherapie (PEDIG-Studien), bei denen nur mit eingerahmten Einzeloptotypen geprüft und ein Visus von 0.7 angestrebt worden war, und verglich diese mit den Ergebnissen anderer durchgeführter Untersuchungen: Bei der Okklusionsbehandlung besteht eine eindeutige Dosis-Wirkungsrelation. Diese Therapie wirkt auch noch bei Kindern, die älter als sieben Jahre sind. Atropin kann eine Alternative sein, die Gefahr systemischer Nebenwirkungen sowie die der iatrogenen Amblyopie besteht. PEDIG-Studien sind mit einigen anderen Studien nur begrenzt vergleichbar, außerdem ist bei diesen Studien die effektive Okklusionszeit nicht bekannt. Levodopa/Carbidopa bringt zusätzlich zur konventionellen Okklusionstherapie keinen Gewinn.
Dr. Béatrice Braun Fränkl zeigte den Ablauf der ophthalmologischen Untersuchungen bei Augenbewegungsstörungen unter besonderer Berücksichtigung der Situation in der alltäglichen Arbeit in einer Augenarztpraxis.
Prof. Dr. René Müri, Bern, referierte über die neurologischen Untersuchungen bei Augenbewegungsstörungen und ging insbesondere auf das Krankheitsbild der progressiven supranukleären Paralyse (PSP) ein, welches im Anfangsstadium leicht mit einem Morbus Parkinson verwechselt werden kann: Kennzeichnend für die PSP sind ein axial betonter Rigor bereits im frühen Stadium dieser Erkrankung, vertikale Augenbewegungsstörungen sowie ein allenfalls geringes Ansprechen auf Medikamente gegen Parkinson.
Prof. Dr. Peter Meyer, Basel, demonstrierte die Pathologie orbitaler Raumforderungen in Synopsis mit den klinischen Bildern einschließlich Therapie und Verlauf. In einem Fall einer Orbitasymptomatik, die zuerst als Pseudotumor orbitae eingestuft worden war, konnte erst mit Hilfe einer digitalen Subtraktionsangiographie eine arteriovenöse Shunt-Malformation als Ursache ermittelt werden. Die MRT-Angiographie hatte keinen ausreichenden Hinweis gegeben.
Dr. Dirk Fischer, Basel, zeigte in seinem Vortrag über die mitochondrialen Erkrankungen, dass die Ptosis durchaus einseitig sein kann. Eine Ptosis sollte mittels Frontalissuspension operiert werden, um keinen späteren Lidschlussdefekt zu bewirken, Nikotinabusus ist bei dieser Erkrankung von Nachteil. Ein 24-Stunden-EKG und ein Herz-Echokardiographie sind angezeigt, um eine möglicherweise vorliegende Kardiomyopathie, eine konzentrische Hypertrophie, ähnlich der hypertensiven Kardiomyopathie, aufzudecken und um bei Reizleitungsstörungen rechtzeitig einen Herzschrittmacher implantieren zu können.
Dr. Thomas Baumann, Basel, betonte in seinem Referat über die Myasthenie, dass bei allen Patienten, auch bei denen mit rein okulärer Form, ein Thorax-CT zum Ausschluss eines Thympoms erfolgen sollte beziehungsweise muss: Bei generalisierter Myasthenie liegt in zehn Prozent der Fälle ein Thymom vor, bei der rein okulären Form der Myasthenie ist es seltener. Bei generalisierter Myasthenie wird ein Thymom grundsätzlich entfernt, bei rein okulärer Myasthenie nur bei Vergrößerung des Thymus. In seltenen Fällen kann auch ein Thymuskarzinom vorliegen, welches aber nur histologisch diagnostiziert werden kann.
Dr. Margarita Todorova, Basel, referierte über den aktuellen Stand von Diagnostik und Therapie der endokrinen Orbitopathie (EOP) und stellte den Untersuchungsbogen der Augenklinik Basel vor. Dieser Bogen ist auch bestens für die Kommunikation zwischen einer Augenarztpraxis und einem Zentrum für EOP, beispielsweise an einer Augenklinik, geeignet.
Dr. Ulf Quäschling, Schwerin, zeigte eindrucksvolle MRT- und CT-Bilder aus der neuroradiologischen Diagnostik bei Augenmotilitätsstörungen. Bei stattgehabtem Traumata besteht die Indikation zu einem CT, es sei denn, man möchte spezielle Weichteilstrukturen untersuchen, wie bei Verdacht auf Abriss des Sehnerven vom Augapfel, in letzterem Falle ist zusätzlich ein MRT notwendig.
Prof. Dr. Anja Palmowski-Wolfe, Basel, gab eine abschließende Zusammenfassung über das diagnostische Vorgehen bei Doppelbildern. Wichtig ist, dass man nicht nur mit einer punktförmigen Lichtquelle, sondern auch mit einem Stift prüft, um torsionales Doppelsehen zu erkennen.
Prof. Dr. Frank Thoemke, Mainz, referierte über das Thema: „Welche Augenbewegungsstörungen sind ein Notfall?“ Als Notfall anzusehen sind alle akuten Okulomotorius-, Trochlearis- und Abduzensparesen sowie alle zentralen Augenbewegungsstörungen, vor allem akut aufgetretene. Bei schmerzhafter Ophthalmoplegie ist ein MRT (oder CT) angezeigt, um beispielsweise einen Tumor oder eine entzündliche Läsion zu finden. Eine hochauflösende CT- oder MR-Angiographie ist notwendig, um beispielsweise ein Aneurysma zu finden.
Fazit
Dem großen Interesse an dieser Fortbildung entsprach eine hochkarätige Fortbildung mit interdisziplinärer Lehre. Die Basler Fortbildungstage, hervorgegangen aus ursprünglich dem Glaukom gewidmeten Veranstaltungen, werden in diesem Jahr vom 26. bis 27. November mit dem Thema „Klinische Pathologie“ unter dem Vorsitz von Prof. Peter Meyer, Basel, stattfinden.
Weitere Informationen unter: http://www.glaucoma-meeting.ch