Studie zur Wiederherstellung funktioneller Netzwerke im Gehirn von Teilerblindeten

Eine Studie von Wissenschaftler der Universität Magdeburg zeigt, dass ein Sehverlust nach Schädigung der Netzhaut mit dem Kollaps eines gehirnweiten funktionellen Netzwerkes einhergeht, das normalerweise die Aktivität verschiedener Hirnareale untereinander koordiniert. Wie die Arbeitsgruppe um Prof. Bernhard Sabel in der Zeitschrift NEUROLOGY der „American Academy of Neurology“ berichtet, kann nach ihren Untersuchungen dieses Netzwerk durch eine neuartige Behandlung mit schwachen rhythmischen Strömen wiederhergestellt und somit die verlorene Sehleistung wieder verbessert werden. Darauf weist das Universitätsklinikum Magdeburg hin.

Die Sehleistung ist das Resultat einer komplexen Informationsverarbeitung auf unterschiedlichen Ebenen des Nervensystems: Zellen in der Netzhaut des Auges feuern ganz kleine elektrische Signale durch den Sehnerv in den visuellen Cortex des Gehirns, wo diese Signale analysiert und interpretiert werden. An dieser „Interpretation“ ist ein ganzes Netzwerk von Hirnzentren beteiligt, das die visuelle Information zu einer ganzheitlichen Wahrnehmung integriert. Die Aufgabe des neuronalen Netzwerkes besteht darin, Informationen weiterzuleiten, zu verrechnen und zu interpretieren, damit aus der zeitlichen Taktung von elektrischen Impulsen der Nervenzellen ein integriertes Wahrnehmungserlebnis entsteht.
Die neue Studie zeigt, dass die volle Integrität dieses Hirnnetzwerkes für die Wahrnehmungsleistung essentiell ist, teilt das Universitätsklinikum Magdeburg mit. Wie gut ein Sehbehinderter sehen kann oder nicht, komme demnach nicht nur darauf an, wieviel Restsehen nach der Schädigung noch vorhanden ist (bzw. wie viele Information das Gehirn noch aufnimmt), sondern es komme vor allem auch darauf an, wie effizient das Restsehen vom funktionellen Netzwerk des Gehirns verarbeitet werden kann. Denn weit verteilte Hirnareale müssen miteinander synchronisiert werden und zwar auch solche Hirnareale, die von der Ursache der Sehbehinderung überhaupt nicht direkt betroffen sind. Die Untersuchungen zeigten, dass die Synchronisationsfähigkeit des Netzwerks bei Sehbehinderten stark beeinträchtigt ist. Aber diese Synchronisation könne mittels Wechselstrombehandlung wiederhergestellt werden, was eine Verbesserung der Sehleistung zu Folge habe.
Durch die Zusammenarbeit der Fachgebiete Medizinische Psychologie, Neurologie und Informatik Universität Magdeburg wurde zunächst die Rolle der funktionellen Netzwerke in Gehirn von teilerblindeten Patienten untersucht. Bei einer Gruppe von 15 Patienten mit Schädigungen des Sehnervs, der das Auge mit dem Gehirn verbindet, wurden zunächst die Sehschärfe und die Größe des Sehfeldes gemessen. Zur Darstellung funktioneller Netzwerke in Gehirn wurden anschließend Hirnwellen mittels EEGs unter Ruhebedingungen und geschlossenen Augen aufgezeichnet. Im Unterschied zu Versuchspersonen ohne Sehbehinderung zeigten die Patienten eine gravierende Schädigung der Netzwerksynchronisation, denn die erwarteten Hirnareale arbeiten nicht mehr wie erforderlich gut abgestimmt miteinander zusammen. Je stärker der Zusammenbruch des Netzwerkes war, umso stärker eingeschränkt war auch die Sehleistung.

Lässt sich jedoch eine Synchronisation des Netzwerkes wiederherstellen? „Wir wussten, dass das Gehirn eine erstaunliche Plastizität besitzt, also die Fähigkeit, Schäden auszugleichen. Wir vermuteten, dass es daher auch möglich sein könnte, verlorene Sehleistung durch eine Resynchronisierung des Netzwerkes wenigstens zum Teil wiederherzustellen“, berichtet der Neuropsychologe Michał Bola vom Institut für Medizinische Psychologie, Erstautor der Arbeit. Diese Überlegung führte zum nächsten Schritt: Weil die Kommunikation im Netzwerk des Gehirns auf dem synchronisierten „Feuern“ (oder Taktung) elektrischer Potentiale basiert, schlussfolgerten die Wissenschaftler, dass eine Resynchronisierung des Netzwerkes vielleicht von außen mittels nicht-invasiven Wechselstromimpulsen möglich sein könnte.

„Wir hatten bereits gute Erfahrungen mit der nichtinvasiven Wechselstrom-Behandlung bei Patienten mit Sehbehinderungen gemacht“, berichtet der Arbeitsgruppenleiter Prof. Bernhard Sabel, „aber die Mechanismen der Wiederherstellung von verlorener Sehleistung waren unbekannt“. In klinischen Studien wurden kleine Elektroden an der Stirn neben den Augen geklebt und sodann Wechselströme sehr geringer Stärke täglich für etwa 30 Minuten verabreicht. „Da wir beobachtet haben, dass funktionelle Netzwerke bei Sehbehinderten weitreichend gestört sind, hofften wir, dass eine Resynchronisation dieser Netzwerke für die Erholung der Sehleistung vielleicht hilfreich sein könnte“, sagt Bola.

Nach nur zehn Tagen Wechselstrom-Behandlung konnte eine Wiederherstellung der Hirnnetzwerke im EEG nachgewiesen werden, berichtet derWissenschaftler: Der visuelle Cortex im Hinterhaupt war wieder verbunden mit dem Frontalcortex im Stirnbereich. Netzwerke sahen wieder eher so aus wie bei den Versuchspersonen ohne Sehbehinderung. Prof. Sabel: „Und je besser die Netzwerksynchronisation war, je stärker verbesserte sich auch die Sehleistung. Sogar weitreichende Verbindungen von entfernt liegenden Hirngebieten, die überhaupt nicht direkt vom Schaden betroffen waren, wurden wieder Teil des Netzwerks. Diese Ergebnisse sind nicht nur für unser Verständnis von normaler Sehleistung wichtig, aber dem Zusammenbruch des Hirnnetzwerkes in der Erblindung können wir nun im wahrsten Sinne die Stirn bieten. Durch die Stärkung der Verbindungen visueller Hirnareale zum Stirnhirn kann eine visuelle Restitution erreicht werden, und das, obwohl die Ursache der Erblindung, also die Schädigung des Sehnerven selbst, nicht reversibel ist. Eine solche Sehleistungsverbesserung galt gemeinhin als unmöglich.“
Dies gebe Anlass zur Hoffnung für Patienten mit Teilerblindungen, dass verlorene Sehleistungen jedenfalls teilweise wiedergewonnen werden können.

Die Studie wurde gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF )im Rahmen des Programms ERA-net Neuron “REVIS”.

Publikation:
Bola, M., Gall, C., Moewes, C., Fedorov, A., Hinrichs, H., Sabel, B. A. Brain functional connectivity network breakdown and restoration in blindness. Neurology, online Ausgabe vom 2. Juli 2014.

http://www.neurology.org

Quelle:
Universitätsklinikum Magdeburg

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