Studie zu Aktivitätsmustern der Retina

Wissenschaftler des Werner Reichardt Centrums für Integrative Neurowissenschaften (CIN) an der Universität Tübingen und des Tübinger Bernstein Centers for Computational Neuroscience haben nachgewiesen, dass die Aktivitätsmuster der Netzhaut, ihre „Sprache“, grundlegend von der Helligkeit der wahrgenommenen Umgebung abhängt. Ändern sich die Lichtverhältnisse, so „spricht die Netzhaut eine andere Sprache“, heißt es in der Mitteilung der Universität Tübingen über die Studie, die zeige, wie differenziert Sehinformationen ans Gehirn geleitet werden. Die Arbeit wurde in der Fachzeitschrift „Nature Neuroscience“ veröffentlicht.

„Bisher ging die Wissenschaft davon aus, dass die Netzhaut die gleiche Szene immer in ein bestimmtes Aktivitätsmuster umwandelt“, erklärt Dr. Thomas Münch vom CIN. Wie er und seine Mitarbeiter der Arbeitsgruppe „Retinal Circuits and Optogenetics“ aber feststellten, liefert die Netzhaut von der gleichen Szene jeweils völlig unterschiedliche Informationen ans Gehirn, sobald sich die Helligkeit auch nur leicht verändert. Beim Betrachter kommt zwar der gleiche Bildausschnitt an ‒ aber die Impulse der Nervenzellen sind grundsätzlich andere. Ein besseres Verständnis dieser Vorgänge könnte dazu beitragen, Digitalkameras und andere technischen Geräte zu verbessern, aber auch Sehprothesen effizienter zu gestalten.

Schon länger ist bekannt, dass die Netzhaut viele Einzelinformationen über das einfallende Bild gleichzeitig an das Gehirn weiterreicht. So geben bestimmte „Informationskanäle“ Aufschluss über Farben, andere Kanäle über die Kanten innerhalb des Bildes, das Verhältnis von Licht und Schatten oder die Bewegungsrichtung von Objekten. Die Aktivität all dieser Informationskanäle zusammen formt die Sprache, mit der das Auge mit dem Gehirn kommuniziert. Doktorandin Katja Reinhard, die mit ihrer Kollegin Alexandra Tikidji-Hamburyan die Studie maßgeblich durchführte, erklärt die neuen Befunde an einem Beispiel: „Wenn Sie beim Skifahren das Alpenpanorama einmal mit und einmal ohne Sonnenbrille betrachten, dann schicken die verschiedenen Informationskanäle der Netzhaut grundverschiedene Signale ans Gehirn. Die Sprache der Netzhaut hat sich also alleine wegen der Sonnenbrille komplett verändert, obwohl man das gleiche Bild sieht.“

„Die Ergebnisse erfordern ein Umdenken über die Funktion unseres Auges und des Sehsystems insgesamt“, sagt Münch. Sie zeigten, wie komplex unser Sehsystem sei – selbst die ersten Schritte des Sehens in der Netzhaut. Für die Wissenschaftler ergeben sich damit auch neue Fragen: Warum ändert sich die Netzhaut-Sprache überhaupt? Wie kann unser Gehirn trotzdem immer das gleiche Bild erkennen?

Tikidji-Hamburyan A, Reinhard K, Seitter H, Hovhannisyan A, Procyk CA, Allen AE, Schenk M, Lu-cas RJ & Münch TA (2014) „Retinal output changes qualitatively with every change in ambient illu-minance“ Nature Neuroscience doi: 10.1038/nn.3891

Quelle:
Eberhard Karls Universität Tübingen
Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN)

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